Vierter Artikel. Der Träger oder das Subjekt der Gnade ist das Wesen der Seele.
a) Es ist dies ein Vermögen und nicht das Wesen der Seele. Denn: I. Augustin (3 Hypognost.) sagt: „Die Gnade steht zum Willen im nämlichen Verhältnisse wie der Reiter zum Pferde.“ Also ist das Willensvermögen Träger der Gnade. II. „Von der Gnade her beginnen die Verdienste der Menschen.“ /Augustin. de grat. et lib. arbitr. 4.) Das Verdienst aber ist eine Thätigkeit, die von einem Vermögen ausgeht. III. Ist die Seele ihrem Wesen nach Träger der Gnade, so wäre jede Seele, auch die in Pflanzen und Tieren, befähigt für die Gnade; denn das Wesen in jeder Seele ist das nämliche. IV. Das Wesen der Seele ist dem Verständnisse nach früher wie die Seelenvermögen. Also kann die Gnade als in der Seele befindlich aufgefaßt werden, abgesehen vom Willen, von der Vernunft, im allgemeinen von jedem Vermögen; was unzulässig ist. Auf der anderen Seite vollzieht sich durch die Gnade die Wiedergeburt zu Kindern Gottes. Die Erzeugung oder Geburt aber gilt zuerst dem Wesen und nur infolgedessen den Vermögen. Also ist die Gnade zuerst im Wesen der Seele.
b) Ich antworte; wäre Gnade dasselbe wie Tugend, so müßte sie in einem Vermögen sein, denn (Kap. 56, Art. 1) das Vermögen ist so recht eigentlich Träger oder Subjekt der Tugend. Da aber die Gnade nicht gleichbedeutend mit Tugend ist, sondern früher, wie deren Wurzel und Princip, so ist sie auch da, wo die Wurzel und das Princip der Vermögen sich findet. Wie nämlich der Mensch durch das Vernunftvermögen teil hat am göttlichen Erkennen kraft des Glaubens, durch das Willensvermögen teil hat am göttlichen Wollen kraft der Tugend der heiligen Liebe; — so hat er kraft der Natur der Seele teil an der göttlichen Natur gemäß einer gewissen Ähnlichkeit vermittelst Wiedererzeugung oder Neuerschaffung.
c) I. Wie von der Natur der Seele ausfließen die Vermögen als Principien der Thätigkeit, so fließen von der Gnade als dem bewegenden Princip aus die Tugenden in diese Vermögen und von da in die Thätigkeit. Und danach ist der Vergleich Augustins zu verstehen; nicht als ob die Gnade vom Willen getragen würde, sondern sie bewegt den Willen. II. Die Gnade ist vermittelst der Tugenden in den Vermögen Princip des Verdienstes. III. Die Seele als ein der Wesensgattung nach vernünftiges Wesen ist Subjekt der Gnade. Die Seele aber erhält nicht ihr Wesen vermittelst eines Vermögens, sondern die Vermögen fließen aus der Seele. Und deshalb ist ihrer Gattung nach die menschliche Seele wesentlich verschieden von den Seelen der Tiere und Pflanzen; nicht also jede Seele kann Träger der Gnade sein. III. Die Seelenvermögen, insoweit sie der Natur entsprechen, folgen notwendig der menschlichen Seele. Also kann diese nicht ohne ihre Vermögen sein. Wäre Letzteres aber auch der Fall, so bliebe die Seele ihrem Wesen nach noch eine vernünftige; denn sie wäre immer geeignet dafür, daß solche Vermögen von ihr ausfließen, wenn sie auch thatsächlich deren entbehrte.
