Dritter Artikel. Die Gnade ist nicht gleichbedeutend mit „Tugend“.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Augustin sagt (de spir. et litt. c. 14.): „Die wirkende Gnade sei der Glaube selber, der durch die Liebe wirksam sei.“ Der Glaube aber ist eine Tugend. II. Die Begriffsbestimmungen für die Tugend kommen ebenso der Gnade zu. Denn „sie macht gut den, der sie hat, und macht gut sein Werk;“ sie ist ebenso „eine gute Eigenschaft des vernünftigen Geistes, kraft deren man gut lebt etc.“ II. Die Gnade ist eine gewisse Eigenschaft. Offenbar aber ist sie keine Form oder feststehende Figur, denn das gehört dem Körperlichen zu; — sie ist kein Leiden oder eine dem Leiden d. h. dem Aufnehmen unterworfene Eigenschaft; denn das geht den sinnlichen Teil an; — sie ist kein Vermögen oder eine Fähigkeit, denn sie ist über der Natur und nicht indifferent für gut und böse, wie das natürliche Vermögen im Geiste: Vernunft oder Wille; — also ist sie ein Zustand oder eine innere Verfassung, und somit dasselbe wie „Tugend“. (Vgl. Kap. 57, Art. 1 und 2.) Auf der anderen Seite müßte dann die Gnade eine theologische Tugend sein. Sie ist aber weder Glaube noch Hoffnung, da diese ohne heiligmachende Gnade sein können. Sie ist auch nicht die heilige Liebe; denn „die Gnade kommt der heiligen Liebe zuvor,“ sagt Augustin, (de dono persev. 16.)
b) Ich antworte, es sei die Meinung mancher gewesen, Gnade und Tugend sei wesentlich dasselbe, nur verschieden nach der Auffassung, so daß „Gnade“ genannt wird, insoweit ein Zustand den Menschen gottgefällig macht; und „Tugend“ derselbe Zustand, insoweit er die Vollendung giebt, um gut zu wirken. Dieser Meinung scheint Petrus LombarduZ (2. Sent. d. 26.) zu sein. Wer jedoch recht zusieht, der findet, das könne nicht so sein. Denn Aristoteles sagt (7 Physic.), „die Tugend sei eine Verfassung in dem, was vollendet ist; ich sage aber vollendet gemäß seinem natürlichen Bestände.“ Daraus geht hervor, „Tugend“ werde angenommen mit Rücksicht auf eine vorherbestehende Natur, zu der sie vollendend für die Thätigkeit und den Zweck hinzutritt. Offenbar nun wird durch die erworbenen Tugenden der Mensch in gute Verfassung gesetzt in dem, was der menschlichen Natur beim Thätigsein entspricht. Die eingegossenen Tugenden aber stellen den Menschen in das rechte Verhältnis zu einer höheren Natur und einem höherenZwecke: nämlich sie bereiten vor zur Teilnahme an der göttlichen Natur; und diese Teilnahme an der göttlichen Natur heißt „Licht der Gnade“, nach 2. Petr. 1.: „überaus große und kostbare Verheißungen hat Er euch geschenkt, daß ihr bereits Anteil habt an der göttlichen Natur.“ Und gemäß dieser Natur, der göttlichen, werden wir wiedergeboren zu Kindern Gottes. Wie also das natürliche Licht der Vernunft etwas Anderes ist wie die erworbenen Tugenden, welche mit Beziehung darauf geregelt werden; — so ist das Licht der Gnade, das da ist die Teilnahme an der göttlichen Natur, etwas Anderes wie die eingegossenen Tugenden, die von diesem Lichte sich ableiten und durch die Beziehung zu selbem geregelt werden. Deshalb sagt der Apostel (Ephes. 5.): „Ihr waret einstmals Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn; wie Kinder des Lichtes wandelt also.“ Wie nämlich die erworbenen Tugenden den Menschen vervollkommnen, daß er wandle entsprechend dem natürlichen Lichte der Vernunft; so vollenden die eingegossenen Tugenden den Menschen, daß er wandle entsprechend dem Lichte der Gnade.
c) I. Der Glaubensakt, welcher durch die Liebe wirlt, ist die erste Thätigkeit, worin die Gnade sich offenbart. II. Das „Gute“ bei der Definition der Tugend wird erwähnt in Beziehung auf die bereits bestehende Natur, mag diese ihrem Wesen nach im Innern des tugendhaften sein oder es sich nur um die Teilnahme an einer außen bestehenden Natur handeln; — das „Gute“ in der Gnade aber gilt der Wurzel aller Güte im Menschen. III. Die Gnade gehört zu der ersten Gattung der Eigenschaften, zu den Zuständen; ist aber keine Tugend, sondern wie die Wurzel und das Princip der eingegossenen Tugenden.
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