Fünfter Artikel. Der Mensch kann nicht wissen, ob er die Gnade in sich besitzt.
a) Dies kann er wohl. Denn: I. Die Gnade ist in der Seele kraft des Wesens der Seele. Von dem Allem aber, was so in der Seele ist, hat nach Augustin (22. sup. Gen. ad litt. 31.) der Mensch die zuverlässigste Kenntnis. Also. II. Die Gnade ist ebenso eine Gabe Gottes wie das Wissen. Wer aber von Gott Wissenschaft empfängt, der weiß, daß er Wissenschaft habe, nach Sap. 7.: „Der Herr gab mir von dem was ist wahres Wissen.“ III. Licht ist mehr offenbar wie Finsternis. Denn „was offenbar wird, ist Licht.“ (Ephes. 5.) Die Sünde aber, trotzdem sie Finsternis ist, kann mit Sicherheit gewußt werden. Also auch die Gnade, die ja Licht ist. IV. 1. Kor. 2. heißt es: „Wir haben nicht den Geist dieser Welt empfangen, sondern den Geist Gottes, damit wir wissen, was uns geschenkt worden ist.“ Die Gnade aber ist das erste Geschenk Gottes. V. Gen. 22. sagt der Herr zu Abraham: „Jetzt weiß ich, daß du Gott fürchtest;“ d. h. „ich habe gemacht daß du es weißt,“ erklärt Augustin. Die keusche Furcht Gottes aber, von der da die Rede ist, kann nicht sein ohne die Gnade. Auf der anderen Seite sagt Ekkle. 9.: „Niemand weiß, ob er des Hasses oder der Liebe würdig ist.“ Die Gnade aber macht Gott wohlgefällig. Also.
b) Ich antworte, es könne etwas gewußt werden: 1. infolge von Offenbarung seitens Gottes; und so kann man wissen, man habe die Gnade. Gott thut dies manchmal, damit die Freude der sicheren Anschauung Gottes schon in diesem Leben beginne und Vertrauen und Stärke verleihe bei großen schwierigen Werken; wie zu Paulus gesagt wurde: „Sei zufrieden mit meiner Gnade.“ 2. Infolge eigener Kraft, aus sich selbst geschöpfter Kenntnis; und so kann niemand sicher wissen, ob er im Stande der Gnade sei. Denn dann nur weiß man eine Schlußfolge sicher, wenn man kraft der eigens entsprechenden allgemeinen Grundprincipien darüber urteilen kann. Wer das entsprechende Princip nicht kennt, der kann auch nicht die daraus abgeleitete Schlußfolgerung wissen. Das Princip aber und der Gegenstand der Gnade, Gott selber, ist uns wegen seiner unendlichen Größe unbekannt, nach Job 36.: „Siehe, Gott ist groß, überragend unser Wissen.“ Seine Anwesenheit also in uns oder seine Abwesenheit kann nicht mit Sicherheit gewußt werden: „Kommt Er zu mir, ich werde Ihn nicht sehen; geht Er fort, ich werde es nicht wissen“; heißt es bei Job 9. Dem entsprechen die Worte Pauli (1. Kor. 4.): „Aber ich fälle kein Urteil über mich selbst; … wer mich richtet, ist der Herr.“ 3. Es kann etwas geschlossen werden aus äußeren Anzeichen, jedoch nicht mit Gewißheit. Und so kann jemand in etwa erkennen, er habe die göttliche Gnade; wenn er sich nämlich an Gott freut und die Welt verachtet und insoweit er sich keiner Todsünde bewußt ist. Danach kann verstanden werden die Stelle der Apok. (2, 17.): „Dem, der da siegt, will ich verborgenes Manna geben,… welches niemand kennt, der es nicht selber empfängt;“ denn wer die Gnade empfängt, lernt in etwa aus Erfahrung die Süßigkeit kennen, welche sie begleitet. Diese Kenntnis aber ist unvollkommen, nach 1. Kor. 4.: „Ich bin mir nichts bewußt; deshalb aber bin ich noch nicht gerechtfertigt;“ und: „Die Sünden, wer kann sie erkennen; von meinen verborgenen reinige mich, o Herr, und vor fremden bewahre Deinen Knecht.“ (Ps. 18.)
c) I. Was im Wesen der Seele ist, das erkennt der Mensch kraft erfahrungsgemäßer Kenntnis, insofern er vermittelst der Thätigkeiten die innerlichen Principien kennen lernt; wie wir, wenn wir thatsächlich wollen, den Willen kennen lernen, und das Leben vermittelst der Lebensthätigkeiten. II. Zum Wesen der Wissenschaft gehört die Gewißheit; und ebenso gehört es zum Wesen des Glaubens, daß jemand gewiß sei rücksichtlich dessen, was er glaubt. Denn die Gewißheit ist die Vollendung der Vernunft, wo diese Gaben sich finden. Wer also Wissenschaft hat oder Glauben; der ist gewiß, sie zu haben. Das geht aber nichts die Gnade und die heilige Liebe an, die im begehrenden Teile der Seele sind. III. Princip und Gegenstand der Sünde ist das veränderliche Gut, das uns bekannt ist. Die Gnade aber hat zum Princip und Gegenstand Gott, der uns unbekannt ist wegen des Übermaßes von Licht, „in dem Er wohnt.“ 1. Tim. ult. IV. Der Apostel spricht hier von den Gaben der Herrlichkeit, von denen wir durch den Glauben sichere Kenntnis haben und die wir erhoffen für die Zukunft. Die Gnade aber, kraft deren wir diese Gaben verdienen können, erkennen wir in uns nicht mit Sicherheit. Oder es ist die Rede davon, wenn Gott dies offenbart, daß Er die Gnade giebt, weshalb dann folgt: „Uns hat Gott es geoffenbart durch den heiligen Geist.“ V. Das Wort des Herrn gilt von der erfahrungsgemäßen Kenntnis, welche Abraham nämlich gewonnen hatte durch seine im Gehorsam gethanenen Werke. Oder es bezieht sich auf eine ihm gemachte Offenbarung.
