Vierter Artikel. Die Gnade ist im einen mehr wie im anderen.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Gnade geht aus der göttlichen Liebe hervor, von welcher Sap. 6. gesagt wird: „Den kleinen und den großen hat Er gemacht; Er trägt gleichmäßig Sorge für alle.“ II. Wovon der höchste Grad ausgesagt wird, davon gilt kein Mehr und Minder. Die Gnade aber steht auf der höchsten Stufe, denn sie vereint mit dem letzten Endzwecke. Also hat davon der eine nicht mehr und der andere minder. III. Die Gnade ist das Leben der Seele; vom Leben aber giebt es kein Mehr und Minder. Auf der anderen Seite heißt es Ephes. 4.: „Einem jeden ist die Gnade gegeben nach dem Maße des Geschenkes Christi.“ Wo aber von Maß gesprochen wird, da ist keine schlechthinnige Gleichheit.
b) Ich antworte; ein Zustand kann 1. einen gewissen Umfang haben mit Rücksicht auf den Zweck oder den Gegenstand, insoweit die eine Tugend höher steht wie die andere je nachdem sie auf ein größeres Gut gerichtet ist; — und danach ist die Gnade in jedem gleicherweise; denn in jedem verbindet sie mit dem höchsten Gute. 2. Von seiten des Subjekts oder Trägers der Gnade aber kann der eine mehr Anteil haben als der andere. Denn wer sich mehr vorbereitet für das Aufnehmen des Lichtes der Gnade, der nimmt mehr daran teil. Da aber die Vorbereitung zur Gnade Sache des Menschen nur ist, insoweit Gott den freien Willen in Thätigkeit setzt, so ist der erste Grund für die Verschiedenheit der Gnade im Menschen die Weisheit Gottes, der in verschiedener Weise seine Gaben verteilt, damit vermittelst verschiedener Stufenfolgen die Schönheit und Vollendung der Kirche erstehe; wie Er auch gewollt hat, daß in der Schöpfung die Dinge gemäß verschiedenen Graden im Sein seine Güte verherrlichen. Deshalb fügt der Apostel bei Ephes. 4, 12. hinzu: „Zur Vollendung der Heiligen, zum Aufbau des Körpers Christi.“
c) I. Soweit Gott stets der nämliche einfache Akt ist, erstreckt sich seine Sorge gleichmäßig auf alle; Gott aber giebt den einen mehr Gaben, den anderen weniger. II. Nur nach der Teilnahme des Subjekts ist eine Verschiedenheit in der Gnade; nicht nach der erstgenannten Weise. III. Das natürliche Leben gehört zur Substanz des Menschen und somit ist da kein Mehr und Minder; das Leben der Gnade gehört zu den Eigenschaften oder Zuthaten, und sonach kann der Mensch es mehr oder minder haben.
