Zwölfter Artikel. Der Gabe der Furcht entspricht als Seligkeit die Armut des Geistes.
k) Dagegen wird geltend gemacht: I. Die Furcht ist der Anfang der Weisheit. Die heilige Armut aber ist die Vollendung, nach Matth. 9.: „Wenn du vollkommen sein willst, so gehe hin, verkaufe all das Deinige und gieb es den Armen.“ II. Nach Ps. 118, 120.: „Durchbohre mit Deiner Furcht mein Fleisch,“ entspricht die Abtötung des Fleisches mehr der Furcht; und somit als Seligkeit mehr die Trauer. III. Der Gabe der Furcht entspricht die Tugend der Hoffnung. Dieser aber kommt mehr zu die letzte Seligkeit: „Selig die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder genannt werden.“ Denn nach Röm. 5. „rühmen wir uns in der Hoffnung der Kinder Gottes.“ IV. Den Seligkeiten entsprechen die Früchte. Unter den Früchten aber ist keine, welche der Gabe der Furcht zukommt; also entspricht der Furcht auch keine Seligkeit. Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. serm. Dom. in monte 4.): „Die Furcht Gottes entspricht den Demütigen, von denen gesagt wird: „Selig die Armen im Geiste.“
b) Ich antworte, die Armut des Geistes entspreche recht eigentlich der Furcht Gottes. Denn der kindlichen Fürcht gehört es an, Gott unterthan zu sein; was also dieser Unterwürfigkeit folgt, das gehört der Gabe der Furcht an. Ist aber jemand Gott unterworfen, so hört er auf, in sich selbst oder in etwas Anderem seinen Stolz zu suchen; er will nur in Gott allein leben. Deshalb heißt es im Ps. 19.: „Diese in ihren Wagen, jene in ihren Pferden; wir aber wollen anrufen den Namen Gottes.“ Wer also Gott unterthan ist, der ist nicht stolz auf sich selber; und nicht auf Ehre und Reichtum, was Alles eben zur Armut des Geistes gehört. Denn darunter ist zu verstehen (nach Augustin l. c.) das Zunichtewerden des eigenen stolzen Geistes oder das Verzichten auf zeitliche Güter, was durch den Geist, d. h. kraft des eigenen Willens auf den Antrieb des heiligen Geistes hin, sich vollzieht. (Vgl. Ambrosius zu Luk. 6 und Hieronymus zu Matth. 5.)
c) I. Alle Seligkeiten gehören der Vollendung des geistigen Lebens an; denn „Seligkeit“ besagt etwas Vollendetes. In dieser Vollendung nun ist der Anfang die Verachtung der zeitlichen, äußerlichen Güter. Die Vollendung selbst aber besteht nicht in dem Verzicht auf zeitliche Güter. Die kindliche Furcht ist ja auch verbunden und zusammen mit der Weisheit. II. Der Unterwürfigkeit unter Gott, welche von der kindlichen Furcht kommt, ist mehr entgegengesetzt das Sich-groß-machen entweder in sich selbst oder in äußeren Gütern, wie das fleischliche Ergötzen; welches allerdings, wenn auch in mehr entfernter Weise, ebenfalls der Furcht entgegensteht. Denn wer Gott sich unterwirft und Ihm Ehrfurcht erweist, der freut sich eben in nichts Anderem als in Gott. Das fleischliche Ergötzen nämlich hat nicht den Charakter des Schweren, was zum Wesen der Furcht gehört wie auch zum Wesen des Sich-groß-machens. Deshalb entspricht die Seligkeit der geistigen Armut mehr der Gabe der Furcht als die Trauer. III. Die Hoffnung schließt eine Bewegung in sich ein auf etwas hin als den Abschluß; die Furcht jedoch eine Bewegung von etwas ab. Und deshalb entspricht die letzte Seligkeit besser der Hoffnung als Abschluß und Vollendung der geistigen Vollkommenheit. Die erste Seligkeit aber, welche im Entfernen der äußeren Güter besteht als eines Hindernisses für die Unterwürfigkeit unter Gott, entspricht der Furcht als dem Anfange der Weisheit. IV. Die Bescheidenheit, Genügsamkeit und Keuschheit, jene Früchte also, die einen mäßigen Gebrauch der äußeren Dinge einschließen, entsprechen der Gabe der Furcht.
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