Vierter Artikel. Aus heiliger Liebe muß der Mensch sich selbst mehr lieben wie den Nächsten.
a) Das Gegenteil scheint wahr zu sein. Denn: I. Der Hauptgegenstand der heiligen Liebe ist Gott. Bisweilen aber hat der Mensch einen Mitmenschen, der mehr mit Gott verbunden ist wie er selbst. Also muß er einen solchen mehr lieben wie sich selbst. II. Den Schaden desjenigen, den wir in höherem Grade lieben, vermeiden wir auch mehr. Der Mensch aber hält einen Schaden in sich selber oder in seinem Besitze manchmal aus auf Grund der Nächstenliebe, nach Prov. 12.: „Wer auf einen Schaden nicht achtet um seines Freundes willen, der ist gerecht.“ Also. III. 1. Kor. 13. heißt es, „die Liebe suche nicht den eigenen Vorteil.“ Wen wir aber am meisten lieben, dessen Gut suchen wir am meisten. Auf der anderen Seite heißt es Lev. 19. und Matth. 22.: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Also ist da die Selbstliebe wie die Richtschnur und das Beispiel der Nächstenliebe hingestellt; und sonach steht sie höher.
b) Ich antworte, im Menschen sei Leib und Seele. Der Mensch also liebt sich selbst, wenn er sich gemäß seiner geistigen Natur liebt. (Kap. 25, Art. 7.) Und danach muß der Mensch sich selber nach Gott mehr lieben als irgend einen anderen. Denn Gott wird geliebt als Princip alles Guten, worauf die heilige Liebe sich gründet. Der Mensch aber liebt sich selber unter dem Gesichtspunkte, daß er an diesem Guten Anteil hat. Der Nächste wird geliebt unter dem Gesichtspunkte der Gesellschaft und der Gemeinschaft in diesem Guten. Solche Gesellschaft nun ist maßgebender Grund für die Liebe gemäß einer gewissen Einigung in Beziehung auf Gott. Wie also die Einheit höher steht als die Vereinigung, so ist dies, daß der Mensch selber teilnimmt am seligen Gute ein höherer Grund der Liebe als daß ein anderer in seiner Gesellschaft daran teilnimmt. Also muß der Mensch sich selbst mehr lieben wie den Nächsten. Und das Zeichen davon ist, daß der Mensch, um den Nächsten von einer Sünde zu befreien, keinerlei Schaden für seine Seele auf sich nehmen darf, welcher aus der eigenen Sünde folgen würde.
c) l. Der Umfang der heiligen Liebe hängt von Gott als dem Gegenstande ab und vom liebenden selber, der die heilige Liebe besitzt; wie ja der Umfang jeder Thätigkeit abhängt von der Beschaffenheit des handelnden. Mag also auch der Nächste mit Gott immerhin in höherem Grade verbunden sein; weil er aber nicht dem anderen nahesteht wie dieser sich selbst, so folgt nicht, daß dieser Nächste mehr aeliebt werden müsse. II. Körperlichen Schaden kann jemand auf sich nehmen wegen des Freundes; denn dieses selber gehört zur Tugend, dem Gute also des vernünftigen Geistes, so daß dadurch der Mensch wieder sich selber wahrhaft mehr liebt. Keine Sünde jedoch darf der Mensch thun, um den anderen von der Sünde zurückzuhalten. III. „Die Liebe sucht nicht den eigenen Vorteil; denn sie zieht nicht das eigene Beschränkte dem Gesamtbesten vor,“ sagt Augustin in seiner Regel. Immer aber ist das recht aufgefaßte Gemeinbeste liebwerter wie das besondere eigene Gut; so gefällt auch dem Teile mehr wie das eigene Gut das Beste des Ganzen.
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