Fünfter Artikel. Der Mensch muß mehr lieben den Nächsten wie seinen eigenen Körper.
a) Das scheint zu viel. Denn: I. Im „Nächsten“ wird mitverstanden sein Körper. Also müßte der Mensch mehr lieben den Körper des Nächsten wie seinen eigenen. II. Der Mensch muß mehr lieben die eigene Seele wie die des Nächsten. Der eigene Körper aber ist unserer Seele näher wie der Nächste. Also müssen wir unseren Körper mehr lieben wie den Nächsten. III. Jeder setzt der Gefahr aus das, was er minder liebt, zu gunsten dessen, was er mehr liebt. Nicht jeder Mensch aber ist gehalten, seinen Körper dahinzugehen für das Heil des Nächsten; das ist Sache der Vollkommenen, nach Joh. 15.: „Eine größere Liebe hat niemand als daß er sein Leben dahingiebt für seine Freunde.“ Also ist der Mensch nicht gehalten, seinen Nächsten mehr zu lieben wie seinen eigenen Körper. Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de doctr. christ. 27.): „Mehr müssen wir lieben den Nächsten wie unseren Körper.“
b) Ich antworte, Jenes muß mehr auf Grund der heiligen Liebe geliebt werden, was mehr den Charakter des aus heiliger Liebe Liebwerten besitzt. Die Gesellschaft aber in der vollen Teilnahme an der Seligkeit, welche ja der maßgebende Grund ist für die Liebe des Nächsten, bildet einen höheren Grund für das Liebwerte, wie die Teilnahme an der Seligkeit nur kraft eines gewissen Überfließens, wonach der Körper irgendwie daran Anteil haben kann. Also mit Rücksicht auf das Heil unserer Seele müssen wir mehr lieben den Nächsten wie den eigenen Körper.
c) I. Der Nächste muß mehr geliebt werden, selbstverständlich mit Rücksicht auf seine Seele; denn „jegliches Ding scheint das zu sein, was das Maßgebende im selben ist.“ (9 Ethic. 8.) II. Unser Körper ist unserer Seele näher wie der Nächste mit Rücksicht auf die Bildung unserer Natur; mit Rücksicht auf die Seligkeit aber ist inniger die Vereinigung der Seele des Nächsten mit unserer Seele, wie die unseres Körpers selber mit unserer Seele. III. Jedem Menschen liegt ob die Sorge für den eigenen Körper; nicht jedem aber liegt ob die Sorge für das Heil der Seele des Nächsten, außer etwa im Notfalle. Also ist es keine Vorschrift, daß jemand seinen Körper aussetzt für das Heil des Nächsten, außer wenn er gehalten ist, für dessen Heil zu sorgen. Daß aber jemand sein Leben hingiebt für das Heil des Nächsten, das ist vollendete Liebe.
