Zweiter Artikel. Die geistige Trauer ist ein eigenes besonderes Laster.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Jedes Laster macht den Geist traurig über das entgegengesetzte geistige Gut. Der Gaumenlustige nämlich trauert über das Gut der Enthaltsamkeit; der Wollüstige über das Gut der Keuschheit. Da also die geistige Trauer zum Gegenstände ein geistiges Gut hat, so ist sie keine besondere Sünde. II. Die Trauer steht der Freude gegenüber, die doch als keine besondere Tugend betrachtet wird. III. Das geistige Gut an sich, da es Gegenstand der Tugend überhaupt ist, bildet keinen besonderen Gegenstand für eine Tugend oder ein Laster. Nichts aber erscheint, was zu diesem geistigen Gute im allgemeinen hinzutrete, um daraus den Gegenstand für die geistige Trauer als ein besonderes Laster zu machen, außer etwa die Arbeit. Denn deshalb fliehen manche die geistigen Güter, weil sie mühevoll sind, so daß die geistige Trauer als ein gewisser Ekel betrachtet werden muß. Nun ist es aber ganz dasselbe: die Arbeit fliehen und die Ruhe suchen. Da Letzteres nichts Anderes also ist als Faulheit, so ist eben die geistige Trauer nur Faulheit. Und das ist falsch. Denn die Faulheit steht entgegen der Sorge; die Trauer aber der Freude. Somit ist erstere überhaupt kein besonderes Laster. Auf der anderen Seite unterscheidet Gregor (31. moral. 17.) die geistige Trauer von den anderen Lastern.
b) Ich antworte, weder das geistige Gut im allgemeinen als Gegenstand der Trauer noch verbunden mit dem Charakter des Mühevollen sei der eigentliche Gegenstand der geistigen Trauer als eines besonderen Lasters. Das Erste würde die geistige Trauer nicht von den anderen Sünden im allgemeinen trennen; das Zweite nicht von den fleischlichen Sünden. Deshalb muß man berücksichtigen, daß in den geistigen Gütern eine gewisse Ordnung ist, insoweit sie in geregelter Weise in Beziehung stehen zum göttlichen Gute. Mit diesem letzteren nun beschäftigt sich als eigene besondere Tugend die heilige Liebe. Wenn also jeder Tugend für sich es zugehört, sich zu freuen an dem eigens entsprechenden geistigen Gute, welches in der eigenen Thätigkeit besteht; so gehört es der heiligen Liebe zu, sich zu freuen am göttlichen Gute. Und so ist auch jene Trauer, welche sich auf den eigens entsprechenden Gegenstand als auf das geistige Gut der einzelnen Tugend bezieht, keine besondere Sünde, sondern begleitet alle Sünden. Traurig sein aber über das göttliche Gut, woran die heilige Liebe sich freut, das ist die eigene besondere Sünde der geistigen Trauer.
c) Die Einwürfe sind dadurch erledigt.
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