Vierter Artikel. Der Sitz der Gerechtigkeit ist im Willen.
a) Dem scheint nicht so zu sein. Denn: I. Die Gerechtigkeit wird oft „Wahrheit“ genannt, die doch in der Vernunft sich findet. II. Die Gerechtigkeit schließt die Beziehung zu einem anderen ein. Beziehen aber den einen auf den anderen ist Sache der Vernunft. III. Die Gerechtigkeit ist eine moralische Tugend. Also ist ihr Sitz das, was kraft Teilnahme an etwas Anderem nur und nicht dem inneren Wesen nach vernünftig ist. Das ist aber die Begehr- und Abwehrkraft im sinnlichen Teile. Auf der anderen Seite sagt Anselmus (de Verit. 13.): „Die Gerechtigkeit ist die Geradheit des Willens, die um ihrer selbst willen festgehalten wird.“
b) Ich antworte, jenem Vermögen gehöre eine Tugend an, dessen Thätigkeit durch diese Tugend gemessen werden soll. Nicht aber deshalb werden wir „gerecht“ genannt, weil wir etwas recht erkennen. Also die Vernunft ist von vornherein nicht der Sitz für die Gerechtigkeit. Weil wir nun „gerecht“ genannt werden, weil wir etwas recht thun, davon aber das nächste Princip eine begehrende Kraft ist, so muß die Gerechtigkeit in einem begehrenden Vermögen sich finden. Geben aber jedem das Seine kann nicht vom sinnlichen Begehren ausgehen, denn das sinnliche Erfassen erstreckt sich nicht auf das Erfassen des Verhältnisses zwischen dem einen und dem anderen; das ist eigen der Vernunft. Also kann die Gerechtigkeit nicht in den sinnlichen Kräften, sondern nur im vernünftigen Begehrungsvermögen, im Willen, sich finden.
c) I. Der Wille ist vernünftiges Begehren. Die Geradheit der Vernunft also, welche „Wahrheit“ genannt wird, behält, auch insoweit sie dem Willen als Richtschnur eingeprägt ist, wegen dessen Nähe zur Vernunft, den Namen „Wahrheit“; und so wird die Gerechtigkeit manchmal „Wahrheit“ genannt. II. Der Wille richtet sich auf seinen Gegenstand gemäß der Auffassung der Vernunft, der es entspricht, den einen zum anderen hinzubeziehen; und somit kann der Wille wollen mit Bezug auf den anderen; das aber heißt „Gerechtigkeit“. III. Alles Begehren ist von Natur danach angethan, der Vernunft zu gehorchen und so an deren Vorzügen teilzunehmen; nicht die sinnlichen Kräfte allein sind dazu geeignet, sondern auch der Wille.