Achter Artikel. Die besondere Gerechtigkeit hat einen besonderen Gegenstand, dem sie zugewendet ist.
a) Dies wird bestritten: I. Zu Genes. 2. (Fluvius quartus) schreibt Augustin (2. de Gen. contra Mani. 10.): „Euphrates heißt der Fruchtbringer; und dabei wird nicht gesagt, nach welcher Richtung hin er fließt, denn die Gerechtigkeit erstreckt sich nach allen Seiten der Seele hin.“ Also hat die Gerechtigkeit keinen besonderen Gegenstand; denn jeder besondere Gegenstand würde nur auf ein besonderes Vermögen gehen. Also hat die Gerechtigkeit als besondere Tugend keinen eigenen Gegenstand. II. Augustin schreibt (83 Qq. 61.): „Vier Tugenden sind es, vermittelst deren in diesem Leben man geistigerweise lebt: nämlich die Mäßigkeit, Klugheit, Stärke und Gerechtigkeit; und letztere breitet sich über alle anderen aus.“ III. Die Gerechtigkeit leitet den Menschen genügend in dem, was sich auf den anderen bezieht. Durch Alles aber in diesem Leben kann der Mensch zum anderen hinbezogen werden. Also ist der Gegenstand der Gerechtigkeit etwas Allgemeines und nicht etwas Besonderes. Auf der anderen Seite (5 Ethic. 2.) weist Aristoteles der besonderen Gerechtigkeit als besonderen Gegenstand das zu, was zum gesellschaftlichen Leben gehört.
b) Ich antworte, Alles, was durch die Vernunft geregelt werden kann, sei Gegenstand der moralischen Tugend. Es können aber durch die Vernunft geregelt werden die inneren Leidenschaften der Seele, die Thätigkeiten nach außen hin und die äußeren Dinge, welche der Mensch gebraucht. Gemäß den Thätigkeiten nach außen hin und den äußeren Dingen, in denen die Menschen wechselseitig Gemeinschaft haben, wird nun berücksichtigt die Beziehung des einen Menschen zum anderen; gemäß den inneren Leidenschaften vollzieht sich die Regelung des Menschen in sich selbst. Da also die Gerechtigkeit die maßgebende Richtschnur einschließt für die Beziehung des einen Menschen zum anderen, so beschäftigt sie sich nicht mit dem Gesamtgegenstande der moralischen Tugenden, sondern einzig mit den Thätigkeiten nach außen hin und den außenliegenden Dingen; und zwar unter dem besonderen Gesichtspunkte, insoweit danach der eine Mensch in gebührendem Verhältnisse steht zum anderen.
c) I. Die Gerechtigkeit hat zu ihrem Sitze allerdings nur ein Vermögen,den Willen. Dieser aber setzt in Bewegung alle übrigen Seelenvermögen und vermittelst dessen erstreckt die Gerechtigkeit sich auf alle Seelenvermögen. II. Die Kardinaltugenden werden 1. aufgefaßt als besondere, voneinander verschiedene Tugenden, deren jede ihren besonderen Gegenstand hat; und 2. als gewisse allgemeine Seinsbedingungen der Tugend überhaupt. Im letzteren Sinne sagt Augustin (I. c.): „Die Klugheit ist die Kenntnis dessen, was begehrt oder geflohen werden soll; die Mäßigkeit ist die Zügelung der Begierde mit Bezug auf das, was zeitlich ergötzt; die Stärke ist die Festigkeit des Geistes dem gegenüber, was zeitlich lästig fällt; die Gerechtigkeit breitet sich über die übrigen aus als Liebe Gottes und des Nächsten;“ nämlich als Wurzel der ganzen Beziehung des einen zum anderen, III. Nicht die Leidenschaften an sich; nur ihre Wirkungen sind auf den anderen beziehbar, die Thätigkeiten nämlich nach außen hin. Der Gegenstand also der Gerechtigkeit ist kein allgemeiner.
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