Erster Artikel. Das Urteil ist ein Akt der Gerechtigkeit.
a) Dem steht entgegen: I. Nach 1 Ethic. 5. „beurteilt jeder gut das, was er weiß.“ Also gehört das Urteil dem Wissen an und nicht dem Wollen. Die Erkenntniskraft wird aber durch die Klugheit vollendet, nicht durch die Gerechtigkeit. II. Nach 1. Kor. 2. „urteilt über Alles der geistige Mensch.“ Geistig wird man aber durch die heilige Liebe, „die in unseren Herzen ausgegossen ist durch den Geist, der uns gegeben worden.“ (Röm. 5.) III. Jede Tugend hat in ihrem Bereiche zu urteilen: „Der tugendhafte im allgemeinen nämlich ist Regel und Maß.“ (3 Ethic. 4.) IV. Urteilen ist Sache des Richters allein. Die Akte der Gerechtigkeit aber gehen alle Menschen an. Also ist Urteilen nicht ein Akt der Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite steht Ps. 93.: „Bis die Gerechtigkeit in das Urteil übergeht.“
b) Ich antworte, „Urteilen“ besage zuvörderst die Thätigkeit des Richters, der, wie schon sein Name besagt, Recht zu sprechen hat. Das Recht aber ist Gegenstand der Gerechtigkeit. Das Urteil also schließt seiner ersten Bedeutung nach in sich ein die Bestimmung dessen, was recht oder was gerecht ist. Daß nun aber jemand gut etwas im Bereiche einer Tugend bestimmt, das geht vom entsprechenden Zustande der Tugend aus; wie der keusche gut bestimmt im Bereiche der Keuschheit. Das Urteilen also, was da einschließt die richtige Bestimmung dessen, was gerecht ist, gehört der Gerechtigkeit an. Deshalb sagt Aristoteles (5 Ethic. 4.): „Die Menschen nehmen ihre Zuflucht zum Richter, wie zu einer gewissen beseelten Gerechtigkeit.“
c) I. Der Ausdruck „Urteil“ ist von seiner ursprünglichen Bedeutung aus, der Bestimmung dessen, was gerecht ist, erweitert worden, um die rechte Bestimmung und Abgrenzung in allen beliebigen Dingen, sowohl in spekulativen wie praktischen, zu bezeichnen. In Allem aber wird zum rechten Urteile erfordert: 1. die Kraft oder Fähigkeit selber, von welcher das Urteil ausgeht; und danach ist Urteilen eine Thätigkeit der Vernunft, da etwas Bestimmen oder Sagen Sache der Vernunft ist; — 2. die geeignete Verfassung im urteilenden, damit er das rechte Urteil finde. Und danach geht, soweit es sich um den Vereich des Gerechten handelt, das Urteil von der Gerechtigkeit aus, wie im Bereiche des Starken und Schwierigen von der Tugend der Stärke. So neigt also die Gerechtigkeit hin, um recht zu urteilen; und danach ist Urteilen ein Akt der Gerechtigkeit. Der Klugheit aber gehört das Urteilen an wie der Kraft oder Fähigkeit, welche das Urteil ausspricht. II. Der geistige Mensch hat infolge des Zustandes der heiligen Liebe die Hinneigung, um recht zu urteilen; nämlich nach den göttlichen Regeln, denen gemäß kraft der Gabe der Weisheit das Urteil ausgeht. III. Die anderen Tugenden vollenden den einzelnen mit Bezug auf diesen selbst. Die Gerechtigkeit aber lenkt ihn mit Beziehung auf einen anderen. Nun ist der Mensch wohl Herr dessen, was ihm zugehört; nicht aber dessen, was sich auf den anderen bezieht. In den übrigen Tugenden also wird nur das Urteil des tugendhaften Menschen selber erfordert; bei der Gerechtigkeit aber ist erforderlich auch das Urteil eines Vorgesetzten, der über beiden steht. Und danach gehört das Urteil in erster Linie der Gerechtigkeit an und erst dann den anderen Tugenden. IV. Die Gerechtigkeit ist im Fürsten wie im Baumeister, der befiehlt und leitet; in den Unterthanen wie in den ausführenden Kräften. Das Urteil also als Bestimmung dessen, was gerecht ist, findet sich hauptsächlich im Vorgesetzten.
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