Zweiter Artikel. Es ist erlaubt, zu urteilen.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Strafe wird nur für Unerlaubtes angedroht. Der Herr aber sagt: „Urteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet.“ II. Röm. 14. sagt Paulus: „Wer bist du, daß du über einen fremden Knecht urteilst. Vor seinem Herrn (nämlich Gott) wird er stehen oder fallen.“ III. Kein Mensch ist ohne Sünde, nach 1. Joh. 1, 8. Dem Sünder aber steht es nicht frei, zu urteilen, nach Röm. 2.: „Unentschuldbar bist du, o Mensch, der du urteilst; denn worin du über den anderen urteilst, darin verurteilst du dich selber, da du das Nämliche thust, worin du urteilst.“ Auf der anderen Seite heißt es Deut. 16.: „Richter und Vorsteher sollst du aufstellen an den Thoren aller deiner Städte, daß sie gerecht das Volk richten.“
b) Ich antworte, insoweit das Urteilen ein Akt der Gerechtigkeit ist, sei es erlaubt. Also muß es hervorgehen 1. aus der Hinneigung der Gerechtigkeit; 2. aus der Autorität des Vorsitzenden und 3. gemäß der Klugheit. Urteilt deshalb der Mensch gegen die Richtschnur der Gerechtigkeit, so ist das Urteil verkehrt oder ungerecht; urteilt er, wo er keine Autorität hat, so ist das Urteil ein angemaßtes; urteilt er, wo nichts feststeht, also aus schwachen Gründen, leichtsinnig, so ist das Urteil verdächtig oder vorurteilsvoll.
c) I. Der Herr verbietet hier das angemaßte Urteil über die Absichten des Herzens oder sonstige ungewisse Sachen, nach Augustin (2. de serm. Dom. 18.); — oder Er verbietet das Urteil über göttliche Dinge, die wir einfach zu glauben haben, nach Hilarius (sup. Matth. 5.); — oder Er verbietet das übelwollende Urteil, nach Chrysostomus (op. imp. hom. 17.) II. Der Richter wird aufgestellt als Werkzeug Gottes; weshalb Deut. 1. es heißt: „Urteilt was gerecht ist; denn des Herrn ist alles Urteil.“ III. Wer im Stande schwerer Sünden sich findet, soll nicht über jene urteilen, welche in den nämlichen oder geringeren Sünden sind, zumal wenn jene schweren Sünden öffentlich bekannt sind; da dies in den anderen Ärgernis verursachen würde. Ist die eigene Sünde aber verborgen und die Notwendigkeit liegt vor zu urteilen kraft eines Amtes, so kann der betreffende urteilen; aber mit Demut und Furcht soll er urteilen oder strafen. Deshalb sagt Augustin (l. c. c. 19.): „Finden wir uns in den nämlichen Sünden, dann seufzen wir und regen wir den anderen an, ebenfalls über seine Sünde zu seufzen.“ Damit zieht sich der Mensch keinen neuen Anlaß der Verdammnis zu, aber er zeigt sich selbst als würdig der Verdammnis wegen der nämlichen oder einer ähnlichen Sünde.