Sechster Artikel. Die Anmaßung der nicht gebührenden Autorität macht das Urteil zu einem verkehrten.
a) Das wird bestritten. Denn: I. Gerechtigkeit ist die Richtschnur der Wahrheit im Thätigsein. Darauf kommt es aber nicht an, von wem die Wahrheit gesagt wird. II. Das Unrecht zu bestrafen, geht den Richter an. Einzelne aber werden gelobt, weil sie die Sünden solcher straften, über die sie keinerlei Autorität hatten; wie Moses, der (Exod. 2.) den Ägyptier erschlug; und in ähnlichem Falle Phineas (Num. 25.), „dem dies als Gerechtigkeit angerechnet wurde.“ (Ps. 105.) III. Die geistliche Gewalt ist verschieden von der weltlichen. Prälaten aber mischen sich manchmal in Dinge, welche die weltliche Gewalt angehen. Also ist ein solch' angemaßtes Urteil nicht unerlaubt. IV. Wie die Autorität so ist zum rechten Urteile erforderlich die Gerechtigkeit des Richters und die entsprechende Wissenschaft. EinUrteil ist aber nicht deshalb ungerecht, wenn ein Richter es fällt, der nicht die nötige Rechtswissenschaft hat oder nicht die Tugend der Gerechtigkeit besitzt. Also ist auch nicht ein Urteil deshalb immer ungerecht, wenn dem Richter die Autorität fehlt. Auf der anderen Seite heißt es Röm. 14.: „Wer bist du, daß du über einen fremden Knecht urteilst?“
b) Ich antworte; da das Urteil gemäß den geschriebenen Gesetzen zu fällen ist, so legt der Richter den Spruch des Gesetzes gewissermaßen aus, indem er ihn auf den besonderen Fall anwendet. Nun ist es aber die Sache ein und desselben, das Gesetz auszulegen und aufzustellen, soweit die Autorität in Frage kommt. Also kann auch das Urteil nur von jemandem ausgehen, der mit öffentlicher Autorität für das betreffende Gemeinwesen bekleidet ist. Wie es also ungerecht wäre, wenn jemand den anderen zur Beobachtung eines Gesetzes zwingen wollte, das keine öffentliche Autorität besäße; so ist es gleichermaßen ungerecht, daß jemand den anderen zwingen will, einem Urteile sich zu unterwerfen, welches von keinem, der öffentliche Autorität genießt, ausgeht.
c) I. Das Urteil bringt einen Zwang mit sich; es erfordert Unterwerfung. Dies ist beim Aussprechen einer beliebigen Wahrheit nicht der Fall. Ungerecht also wäre es, Unterwerfung zu fordern, wo keine öffentliche Autorität vorhanden ist. II. Kraft göttlicher Einsprechung hat Moses die Autorität erlangt. Darauf deutet die Stelle Act. 7. hin: „Moses meinte, seine Brüder würden es infolge der Tötung des Ägyptiers verstehen, daß durch seine Hand der Herr das Heil bringen werde dem Volke Israel.“ Oder Moses verteidigte jenen, der Unrecht litt von seiten des Ägyptiers, und tötete bei dieser gerechten Verteidigung den letzteren. Deshalb sagt Ambrosius (1.de off): „Wer das Unrecht nicht von seinem Genossen abwehrt, da er es doch kann; fehlt ebenso wie jener, der das Unrecht thut“ und führt dabei das Beispiel Mosis an. Oder man kann mit Augustin (in Quaest Exod. lib. 2. qu. 2.) sagen: „Wie die Erde, ehe sie nützliche Kräuter hervorbringt, gelobt wird, weil sie fruchtbar war an nutzlosen; so war jene That Mosis tadelnswert, aber Vorläufer großer Kraft im Guten.“ Phineas that dies auf Grund göttlicher Eingebung; oder weil er, wenn auch nicht der eigentliche Hohepriester, so doch der Sohn desselben war; und somit gehörte ihm dieses Urteil rechtmäßig zu, wie auch den übrigen Richtern, denen dies aufgetragen war. III. Die zeitliche Gewalt ist unterworfen der geistigen, wie der Körper es ist gegenüber der Seele, nach Gregor von Nazianz. (Orat. 17.) In dem also, worin die zeitliche Gewalt der geistigen unterworfen ist, kann ein Prälat sich in das Zeitliche einmischen. IV. Unwissenheit und Mangel an Tugend sind Gebrechen der einzelnen Person als einer solchen; hier aber handelt es sich um den Mangel der öffentlichen Autorität, der die Gewalt zu zwingen innewohnt.
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