Erster Artikel. Es ist manchmal erlaubt, jemanden an seinen Gliedern zu verstümmeln.
a) Dies scheint niemals erlaubt zu sein. Denn: I. Nach Damascenus (2. de orth. fide 4.) „besteht die Sünde im Abweichen von der Natur.“ Der Natur nach ist aber der Körper des Menschen von Gott so eingerichtet, daß er alle seine Glieder haben muß. Also darf man ihm kein Glied nehmen. II. Wie sich die ganze Seele zum ganzen Leibe verhält, so verhalten sich die einzelnen Vermögen der Seele zu den Teilen oder Organen des Körpers. Nun darf man niemanden seiner Seele berauben, indem man ihn tötet; außer auf Grund der öffentlichen Autorität und Gewalt. Also kann man höchstens auf Grund der öffentlichen Gewalt jemanden um ein Glied verstümmeln. III. Das Heil der Seele ist dem des Körpers vorzuziehen. Man darf aber niemanden verstümmeln um des Heiles der Seele willen; werden doch nach dem Konzil von Nicäa (part. 1. sect. 4. can. 1.) jene bestraft,die sich entmannen, um die Keuschheit zu bewahren. Also darf man aus keinem Grunde jemanden um ein Glied verstümmeln. Auf der anderen Seite heißt es Exod. 21.: „Auge für Auge, Zahn für Zahn, Fuß für Fuß, Hand für Hand.“
b) Ich antworte; da jedes Glied am Körper ein Teil des menschlichen Körpers ist, so besteht es um des Ganzen willen, wie das Unvollkommene wegen des Vollkommenen. Je nach dem Nutzen des Ganzen also muß man mit den einzelnen Gliedern verfahren. Nun ist jedes Glied wohl an und für sich dem Besten des ganzen Körpers dienlich; infolge äußeren Einflusses aber kann ein Glied auch dem Ganzen des Körpers schädlich werden, wie z. B. ein faules, angefressenes Glied den ganzen Körper verderben kann. Ein gesundes, in seiner natürlichen Lage befindliches Glied kann sonach nicht abgeschnitten werden ohne Nachteil für den ganzen Körper. Weil nun ferner der Mensch wie zu seinem Zwecke zum Gemeinwesen Beziehung hat, so kann das Abschneiden eines besonderen Gliedes wohl dem Körper des einzelnen zum Nachteile gereichen, jedoch dem Besten des Gemeinwesens nützen; insofern dies als Strafe verhängt wird zur Zügelung böswilliger Verbrecher. Danach kann nur die öffentliche Autorität das Abschneiden eines Gliedes als Strafe erlaubterweise verhängen wegen kleinerer Sünden; wie sie ja wegen größerer Sünden des Lebens selbe berauben kann. Daraus folgt, daß dies keiner Privatperson erlaubt ist, mag auch jener, dem das betreffende Glied gehört, selbst damit einverstanden sein; denn dadurch wird ein Unrecht angethan dem Gemeinwesen, von dem der betreffende ein Teil ist wie alle anderen Teile. Muß aber ein Glied am Körper, weil es faul ist und somit verderblich für den ganzen Körper, abgeschnitten werden, dann kann dies geschehen, wenn der, dem es zugehört, damit einverstanden ist, auf Grund des Heiles des gesamten Körpers; denn jedem ist die Sorge für die Gesundheit seines Körpers überlassen. Und dasselbe gilt, wenn es mit dem Einverständnisse desjenigen geschieht, dessen Sache es ist, für die Gesundheit des kranken, dem das faule Glied zugehört, zu sorgen. o) I. Nichts steht dem entgegen, daß Jenes, was gegen die besondere beschränkte Natur, also gegen die Natur eines Teiles ist, gemäß der allgemeinen Natur, der Natur des Ganzen sei; wie der Tod und das Vergehen gegen die Natur des besonderen einzelnen Dinges ist, jedoch gemäß der Natur als eines Ganzen, das Alles umfaßt. Und so kann das Verstümmeln um ein Glied gegen die Natur des besonderen einzelnen Körpers sein, um dessen Glied es sich handelt; es ist aber gemäß der Natur im allgemeinen betrachtet, die auf das Beste der Gesamtheit sich richtet. II. Das Leben des Menschen als eines Ganzen steht in keiner Zweckbeziehung zu etwas Besonderem, Eigenem im Menschen selbst; vielmehr hat Alles im Menschen den Zweck, das Ganze zu erhalten. Jemanden also des Lebens berauben, ist niemandem gestattet als der öffentlichen Autorität. Das Abschneiden eines Gliedes aber kann gefordert sein vom Besten des einzelnen Menschen; und so kann dieser im besonderen Falle es verlangen. III. Nur wenn anders der ganze Körper nicht gerettet werden kann, darf man ein Glied davon trennen. Das Heil der Seele aber kann man immer anders wahren als durch das Verstümmeln eines Gliedes; denn die Sünde unterliegt der freien Willensbestimmung. Also niemals ist es gestattet, ein Glied zu verstümmeln, damit die Sünde vermieden werde. Deshalb sagt Chrysosomus zu Matth. 19. Sunt eunuchi, qui semetipsos castraverunt propter regnum (hom. 63.): „Nicht durch Abschneiden von Gliedern, sondern durch die Vertilgung der schlechten Gedanken soll man kämpfen; dem Fluche nämlich verfällt, der ein Glied abschneidet, denn ein Mörder ist, der Solches thut… Auch die Begierde wird dadurch nicht unterwürfiger, sondern lästiger; denn von anderswoher hat seine Quellen der Same als in uns selber und zumal sind diese Quellen der nachlässige Geist und der unenthaltsame Wille; und so bewältigt das Abschneiden des betreffenden Gliedes nicht die Versuchungen wie dies der Zügel des Gedankens thut.“
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