Erster Artikel. Ohne schwere Sünde kann der schuldige nicht die Wahrheit leugnen, kraft deren er verurteilt würde.
a) Das Gegenteil wird bewiesen. Denn: I. Chrysostomus. sagt (hom. 31. in ep. ad Hebr.): „Ich sage dir nicht, du sollst dich selbst vor der Öffentlichkeit oder vor einem anderen anklagen.“ Die Wahrheit gestehen aber ist für den schuldigen ebensoviel wie sich selbst angeben. II. Die Lüge, welche man sagt, um einen anderen vom Tode zu befreien, ist nur eine Notlüge. Also ist die Lüge, welche dazu dient, sich selbst vom Tode zu befreien, um so mehr nur eine Notlüge; da jeder gehalten ist, sich selber mehr zu lieben wie den anderen. Eine Notlüge aber wird nicht als Todsünde betrachtet. III. Alle Todsünde ist gegen die heilige Liebe. Daß der angeklagte aber lügt, um sich von der Anklage zu befreien, ist weder gegen die Liebe Gottes noch gegen die des Nächsten. Also. Auf der anderen Seite ist es eine Todsünde, gegen die Ehre Gottes zu handeln; denn nach 1. Kor. 10. sind wir gehalten, „Alles zur Ehre Gottes zu thun.“ Daß aber der angeklagte sich dessen, was gegen ihn ist, schuldig bekenne, gehört zur Ehre Gottes, nach den Worten Josue zu Acham: „Mein Sohn, gieb dem Gotte Israels die Ehre und bekenne und sage mir, was du gethan, verberge nichts.“
b) Ich antworte, wer gegen das, was der Gerechtigkeit geschuldet wird, handelt, der mache sich einer Todsünde schuldig. Dem Oberen aber im Bereiche seiner Vorsteherschaft zu gehorchen, gehört zu dem der Gerechtigkeit Geschuldeten. Da nun der Richter, soweit seine Gerichtsbarkeit sich erstreckt, der Obere dessen ist, der vor Gericht steht; so ist der schuldige gehalten, die Wahrheit zu sagen, sobald er in Form Rechtens gefragt wird. Und lügt er da, so sündigt er schwer. Fragt aber der Richter nicht in Form Rechtens, wie die öffentliche Rechtsordnung nämlich vorschreibt, so braucht der schuldige nicht zu antworten; er kann appellieren oder sonst in erlaubter Weise ausweichen. Eine Lüge darf er aber nicht sagen.
c) I. Antwortet jemand, insoweit er in Form Rechtens vom Richter gefragt wird, so verrät er sich nicht selber; sondern von anderer Seite her wird er bloßgestellt, da ihm kraft des Gehorsams die Notwendigkeit zu antworten obliegt. II. Lügen, um jemanden vom Tode zu befreien, ist in dem Falle keine einfache Notlüge, wenn es nicht geschehen kann, ohne einem anderen unrecht zu thun; in diesem Falle ist es zugleich eine verderbliche, schädliche Lüge. Wer aber vor Gericht lügt, um sich von der Anklage zu befreien, thut unrecht dem gegenüber, welchem er zu gehorchen gehalten ist; da er ihm das versagt, was ihm gebührt, nämlich das Bekennen der Wahrheit. III. Wer zu seiner Entschuldigung vor Gericht lügt, sündigt gegen die Liebe Gottes, kraft dessen Gewalt rechtgesprochen wird; dann gegen den Richter, dem er das ihm Gebührende versagt; und endlich gegen den Ankläger, der bestraft wird, falls er nicht beweisen kann. Deshalb sagt zu Ps. 140, 4. (Ne declines cor meum in verba malitiae ad excusandas excusationes in peccatis) die Glosse: „Das ist die Gewohnheit der unverschämten, daß sie, vor Gericht gestellt, mit Lügen sich entschuldigen.“ Und Gregor (22. moral. 9.): „Eine lasterhafte Gewohnheit des Menschengeschlechts ist es, heimlich zu sündigen, die begangene Sünde durch Ableugnen zu verbergen; und wenn sie derselben überwiesen sind, sie durch ihre Verteidigung zu vervielfältigen.“
