Achtzigstes Kapitel. Über die potentialen Teile der Gerechtigkeit oder über die mit der Gerechtigkeit verbundenen Tugenden. Die Aufzahlung dieser Tugenden.
a) Cicero zählt (2. de Inv.) unzulässigerweise dieselben auf; nämlich: „die Gottesverehrung, die Hingebung oder Frömmigkeit, die Dankbarkeit, die Vergeltung, die Achtung, die Wahrheit.“ Denn: I. Die Vergeltung ist eine Gattung der Tauschgerechtigkeit, nach Kap. 61. II.Macrobius (sup. somnium Scip. lib. I. c. 8.) führt sieben solcher Tugenden an: „die Unschuld, die Freundschaft, die Eintracht, die Hingebung, die Gottesverehrung, die Hinneigung, die Menschlichkeit.“ Manche von diesen aber fehlen bei Cicero. III. Andere stellen auf den Gehorsam, nach dem Oberen hin, die Zucht nach dem Untergebenen hin, die Billigkeit mit Rücksicht auf die Gleichstehenden, den Glauben oder die Treue und die Wahrheit mit Rücksicht auf alle. Von diesen hat Cicero nur die Wahrheit. IV. Andronicus hat neun Teile: „die Freigebigkeit, die Gütigkeit, die Vergeltung, die Gutmütigkeit, die Frömmigkeit, die Dankbarkeit, die Heiligkeit, die Kunst zu verkehren, die Gesetzeserfahrenheit.“ V. Aristoteles nennt die „Schicklichkeit“ (ἐπιέικεια) als die mit Gerechtigkeit verbundene Tugend, welche nirgendwo hier erwähnt worden.
b) Ich antworte, bei solchen Nebentugenden ist zweierlei zu beachten: 1. Sie kommen in etwas mit der Haupttugend überein; — 2. es mangelt denselben etwas von deren Vollendung. Alle Tugenden also, die Beziehung zu einem anderen haben, können auf Grund des ersten Punktes mit der Gerechtigkeit verknüpft werden; denn der Wesenscharakter der Gerechtigkeit ist es, Beziehung zu einem anderen einzuschließen. Da nun andererseits das vollendete Wesen der Gerechtigkeit darin besteht, daß dem anderen das Seinige gegeben wird gemäß dem vollkommenen Gleichmaße, so können Tugenden dieser Vollendung ermangeln entweder mit Rücksicht auf das Geschuldete oder mit Rücksicht auf das vollendet Gleiche. So nun ist zuvörderst Alles, was vom Menschen Gott geboten wird, geschuldet; aber niemals kann da Gleichheit bestehen, daß so viel nämlich die Menschen Gott böten, wie sie müßten, nach Ps. 115.: „Was soll ich dem denn entgelten für Alles, was Er mir entgolten hat?“ Danach wird zur Gerechtigkeit hinzugefügt: 1. die Gottesverehrung oder Religion, welche nach Cicero „jener höheren Natur, die Gott genannt wird, den gebührenden Kult darbringt.“ Dann kann den Eltern nicht in vollendeter Gleichheit entgolten werden (8 Ethic. ult.); und so wird hinzugefügt 2. die Hingebung, durch welche nach Cicero „den durch das Blut mit uns Verbundenen und den um das Vaterland Verdienten Verehrung dargebracht wird.“ Ferner kann nicht im Verhältnisse der Gleichheit die Schuld abgetragen werden der Tugend (4 Ethic. 3.); und mit Bezug darauf besteht 3. die Achtung und Ehrerbietigkeit, wodurch nach Cicero „die Menschen jene die an Würde oder Tugend voranstehen, ehren und anerkennen.“ Was aber das Geschuldete angeht, so giebt es ein solches im rein moralischen und im gesetzlichen Sinne. (8 Ethic 13.) Das letztere kommt von den Gesetzen, das erstere von der Wohlanständigkeit der Tugend. Und da etwas so Geschuldetes eine gewisse Notwendigkeit einschließt, so läßt dasselbe einen zweifachen Grad zu. Denn das eine ist mit solcher Notwendigkeit ausgestattet, daß ohne dasselbe die Ehrbarkeit der Sitten nicht bestehen kann; dies ist die höherstehende Verpflichtung. Sie kann zuvörderst erwogen werden von seiten des verpflichteten her; und dazu gehört dann, daß der Mensch sich in seinen Worten und Thaten giebt, wie er thatsächlich ist. Deshalb steht da der Gerechtigkeit zur Seite 4. die Tugend der Wahrheit, kraft deren nach Cicero „was ist, was war, was sein wird, unverändert so gesagt wird, wie die Wirklichkeit es erheischt.“ Die Verpflichtung kann sodann erwogen werden von seiten dessen, dem jemand verpflichtet ist, daß nämlich jemand vergilt dem anderen nach dem, was dieser gethan, und zwar
a) im Guten; und so haben wir 5. die Dankbarkeit, in welcher nach Cicero „das Andenken der Freundschaften und Dienstleistungen des einen und der Wille des anderen, es zu entgelten, eingeschlossen ist;“ —
b) im Schlechten; und so besteht 6. die Vergeltung, wodurch nach Cicero „Gewalt oder Beleidigung und dergleichen dunkle Dinge abgewiesen oder gerächt werden.“ Der zweite Grad von Verpflichtung ist jener, ohne welchen die Ehrbarkeit der Tugend wohl bestehen kann, der sie aber steigert; und danach bestehen 7. die Freigebigkeit, Leutseligkeit etc., die Cicero aufzuführen unterläßt, weil darin wenig vom Charakter des Geschuldeten sich findet.
c) I. Die Vergeltung infolge öffentlichen, richterlichen Ausspruches gehört der Tauschgerechtigkeit an; die Vergeltung aber, welche jemand von sich aus macht, freilich nicht gegen das Gesetz, oder die er beim Richter beantragt, ist eine Nebentugend der Gerechtigkeit. II. Macrobius nimmt auf die beiden Teile der Gerechtigkeit Rücksicht. Zum „Meiden des Bösen“ nämlich gehört die Unschuld; zum „Thun des Guten“ die sechs anderen. Zwei davon erstrecken sich auf Gleichgestellte: die Freundschaft für das äußere Zusammenleben, die Eintracht für das innere; — zwei gehen auf die Vorgesetzten: die Hingebung auf die Eltern, die Gottesverehrung auf Gott; — und zwei auf die Untergebenen: die Hinneigung, soweit was sie Gutes an sich haben gefällt, und die Menschlichkeit, die ihren Bedürfnissen entgegenkommt. Denn Isidor (10 Etym. 4.): „Menschlich wird jemand genannt, weil er gegen den Mitmenschen liebevoll und barmherzig ist.“ Die Freundschaft kann aber auch die innerliche Hinneigung ausdrücken, nach 8 und 9 Ethic.; und so gehören zu ihr drei weitere Tugenden, das Wohlwollen, die Eintracht, die Gütigkeit oder von Macrobius Menschlichkeit genannt. Cicero führte diese Tugenden nicht an, weil sie wenig vom Charakter des Geschuldeten oder der Verpflichtung einschließen. III. Der Gehorsam ist bei Cicero enthalten in der Achtung und Ehrerbietigkeit. Die Treue oder der Glaube ist enthalten in der Wahrheit. Die Zucht aber ist keine strenge Pflicht gegen die Untergebenen; denn dem untergebenen als solchem ist man nicht verpflichtet, wenn auch ein Vorgesetzter zur Sorge für die untergebenen verpflichtet werden kann, nach Matth. 24.: „Der treue und kluge Knecht, den der Herr über seine Familie gesetzt hat.“ Deshalb ist sie von Cicero ausgelassen. Bei Macrobius aber ist die Zucht unter der Menschlichkeit enthalten; die Billigkeit ist dasselbe wie Freundschaft. IV. Da stehet Manches, was zur gesetzlichen Gerechtigkeit gegenüber dem Gemeinbesten gehört; und Manches, was der besonderen Gerechtigkeit gegen den einzelnen Mitmenschen hin angehört. Zu letzteren gehörig ist der gute Verkehr oder Austausch, der als ein Zustand bezeichnet wird: die Gleichheit im Ein- und Austausch behütend. Mit Rücksicht auf die gesetzliche Gerechtigkeit wird für das von allen zu Beobachtende genannt die gesetzgebende Tugend, die Wissenschaft nämlich, welche das Verhältnis der kleineren Gemeinwesen, wie der Familie, der Gemeinde, zum größeren, dem Staate, würdigt. Mit Rücksicht auf das, was bisweilen gethan werden muß, abgesehen vom gemeinen Rechte in besonderen Fällen steht da das gesunde, gute Urteil, die „freiwillige Rechtspflege“, wie er sagt, die nämlich von selbst findet, was der Gerechtigkeit entspricht, nicht das geschriebene Gesetz vor sich hat. Zur Klugheit gehört dies, soweit es auf die leitende Kraft ankommt; zur Gerechtigkeit, soweit die Ausführung in Frage kommt. (Vgl. Kap. 51, Art. 4.) Frömmigkeit ist dasselbe wie Gottesverehrung; weshalb sie da genannt wird „die Gott dienende Wissenschaft“, wie ja Sokrates alle Tugenden „Wissenschaften“ nannte. Das Nämliche drückt die Heiligkeit aus. Die Gütigteit ist dasselbe wie die Hinneigung bei Macrobius, weshalb Isidor sagt (10 Etymol. B.): „Gütig ist ein Mensch, der von freien Stücken zum Wohlthun bereit ist und mit ruhiger Sanftmut spricht.“ Die Freigebigkeit aber ist nichts Anderes wie die Menschlichkeit. V. Die Schicklichkeit oder ἐπιέικεια ist zur gesetzlichen Gerechtigkeit gehörig und bedeutet dasselbe, wie das „gute Urteil“ εὐγνωμοσύνη.
