Vierter Artikel. Die Übertretungssünde ist schwerer wie die Unterlassungssünde.
a) Das Umgekehrte ist der Fall. Denn: I. Ein Vergehen will heißen etwas „Übergangenes“; also dasselbe wie Unterlassung. Das „Vergehen“ aber wird Lev. 5. schwerer bestraft wie die einfache „Übertretung“. Also ist die Unterlassung schwerer wie die Übertretung. II. Dem größeren Guten ist entgegengesetzt das größere Übel, nach 8 Ethic. 10. „Das Gute thun“, dem die Unterlassung gegenübersteht, ist aber ein größeres Gut wie „das Böse meiden“, dem die Übertretung gegenübersteht. III. Die Ubertretungssünde kann eine schwere oder eine läßliche sein. Die Unterlassungssünde aber scheint immer eine schwere zu sein; denn sie steht im Gegensatze zu einem affirmativen Gebote. IV. Größer ist die Strafe des Verlustes, das Entbehren nämlich der göttlichen Anschauung, das der Unterlassungssünde gebührt; wie die Pein der Sinne, welche der Übertretungssünde gebührt, nach Chrysostomus (hom. 24. in Matth.). Die Strafe aber entspricht der Schuld. Also. Auf der anderen Seite ist es leichter, vom Bösen sich zu enthalten wie das Gute zu thun. Schwerer also sündigt, der nicht sich enthält, Böses zu thun, was „Übertreten“ ist; wie der nicht das Gute thut, was da ist: Unterlassen.
b) Ich antworte, die Sünde sei insoweit schwer als sie von der Tugend sich entfernt. Der Gegensatz aber ist die größte Entfernung. Also das geradezu Entgegengesetzte ist weiter entfernt von seinem Gegensatze wie die einfache Leugnung des letzteren; wie z. B. das Schwarze mehr entfernt ist vom Weißen, wie das bloß Nichtweiße; denn alles Schwarze ist nicht-weiß, aber nicht umgekehrt. Die Übertretung aber steht offenbar geradezu im Gegensatz zum Tugendakte; während die Unterlassung diesen nur eben verneint. So z. B. ist es Unterlassung, wenn jemand den Eltern nicht die schuldige Achtung erweist; Übertretung, wenn er sie schmäht oder sonst beleidigt. Also im allgemeinen ist die Übertretungssünde schwerer wie die Unterlassungssünde, wenn auch im einzelnen Falle hie und da eine Unterlassung schwerwiegender sein kann wie eine Übertretung.
c) I. „Vergehen“ bezeichnet gemeinhin jegliche Unterlassung; zuweilen jedoch im engeren Sinne eine Unterlassung mit Rücksicht auf das, was Gott gehört; — oder wenn der Mensch mit Wissen und Willen und mit einer gewissen Verachtung „gehen läßt“, was seine Pflicht zu thun erheischt. Und danach hat es eine schwerwiegendere Bedeutung und bedarf einer größeren Buße. II. Diesem: „das Gute thun“ ist entgegengesetzt: „nicht das Gute thun“, d. h. unterlassen; und: „das Übel thun“, d. h. übertreten. Der erste Gegensatz aber ist eine reine Verneinung, ein kontradiktorischer; der zweite ein geradezu gegenüberstehender, ein konträrer, der eine größere Entfernung in sich einschließt. Die Übertretung ist also eine schwerere Sünde. III. Die Unterlassungssünde steht gegenüber den affirmativen, die Übertretung den negativen Geboten; also beide sind nach dieser Seite hin Todsünden. Jedoch kann man Unterlassen und Übertreten im weiten Sinne nehmen, wonach etwas nur abgesehen von diesen Geboten geschieht und nur vorbereitend wirkt für deren Gegenteil; und so ist da läßliche Sünde. IV. Der Übertretungssünde entspricht die Strafe des Verlustes wegen der Abkehr von Gott und die Pein der Sinne wegen der Zukehr zum veränderlichen Gute. Und so verhält es sich ähnlich mit der Unterlassung; weshalb Matth. 7. gesagt wird: „Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen werden,“ und zwar wegen der positiven Wurzel oder der Ursache, aus welcher die Unterlassung hervorgeht und in der somit eine Zuwendung zu vergänglichem Gute liegt; denn letztere hat in ihrem thatsächlichen Wesen keine Zuwendung zu einem vergänglichen Gute. Nach der angegebenen Seite hin also stehen sich „Übertretung“ und „Unterlassung“ gleich.
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