Erster Artikel. Die Freundschaft als Leutseligkeit ist eine eigene besondere Tugend.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Jede Tugend ist Ursache von Freundschaft. Die „vollendete Freundschaft aber hat zum Zwecke die Tugend.“ (8 Ethic. 3.) Also ist die Freundschaft keine besondere eigene Tugend. II. Aristoteles sagt (4 Ethic. 6.) von einem solchen Freunde: „Nicht als Freund und auch nicht als Feind nimmt er das Einzelne in gebührender Weise an.“ Daß aber jemand Zeichen der Freundschaft zeige gegenüber jenen, die er nicht liebt, ist Verstellung, welche der Tugend widerstreitet. Also ist eine solche Freundschaft keine Tugend. III. Die Tugend besteht nach 2 Ethic. 6. in der rechten Mitte, sowie solche der Weise bestimmt. Nun heißt es Ekkle. 7.: „Das Herz der Weisen, wo Trauer, und das Herz der Thoren, wo Freude ist,“ weshalb „es dem tugendhaften entspricht, sich sehr der Ergötzungen zu enthalten.“ (2 Ethic. ult.) Diese „Freundschaft“ aber „trachtet ihrem Wesen nach, zu erfreuen und scheut sich, zu betrüben,“ nach Aristoteles. (4 Ethic. 6.) Also ist sie keine Tugend. Auf der anderen Seite giebt die heilige Schrift Gebote nur mit Rücksicht auf Tugendakte. Ekkli. 4. aber heißt es: „Sei leutselig der Versammlung der armen gegenüber.“
b) Ich antworte, das Gute bestehe in der Ordnung. Da nun der Mensch für den gewöhnlichen Verkehr mit den anderen zu diesen eine geordnete Beziehung haben muß, sei es in seinem Reden oder in seinem Thun, so besteht da ein besonderer Wesenscharakter des Guten; und danach ist die Freundschaft oder Leutseligkeit, welche diese Beziehungen zu den anderen Menschen im gegenseitigen Verkehr regelt, eine besondere Tugend.
c) I. Hier ist nicht von der Freundschaft die Rede, welche auf der Hinneigung beruht, wonach also der eine den anderen liebt; diese wurde bei Gelegenheit der Liebe oben behandelt. Die Freundschaft, wie sie hingenommen wird, besteht nur im geregelten Sprechen und Thun, soweit es auf den Verkehr unter den Menschen ankommt; es ist dies keine vollendete Freundschaft, sondern hat nur eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser. II. Der Mensch ist auf Grund der einen gemeinsamen Natur bereits Freund des anderen; und nur diese allgemeine Liebe stellen die äußeren Zeichen der Höflichkeit dar. Da ist keine Verstellung. III. Das Herz der Weisen ist nicht da, wo Trauer sich findet, als ob sie diese Trauer dem Nächsten verursachten; vielmehr sagt Paulus (Röm. 14.): „Wenn wegen deiner Speise dein Bruder betrübt ist, so wandelst du nichl mehr nach der heiligen Liebe,“ Nein; die Weisen sollen solche trauernden trösten, nach Ekkli. 7.: „Ermangle nicht, die weinenden zu trösten und mit den traurigen sei dein Verkehr.“ Und das Herz der Thoren ist, wo Freude; nicht weil sie Freude verursachen, sondern weil sie sich freuen wollen. Der Weise also soll trösten, nach Ps. 132.: „Siehe, wie angenehm und gut es ist, wenn Brüder friedlich zusammenwohnen.“ Bisweilen aber scheut der Gute auch nicht davor zurück, jene, die mit ihm verkehren, zu betrüben; wenn nämlich daraus etwas Gutes folgt oder ein Übel vermieden wird. (4 Ethic. 6.) Deshalb sagt der Apostel (2. Kor. 7.): „Wenn ich euch betrübt habe in meinem Briefe; ich bereue es nicht … Ich freue mich darüber, nicht weil ihr betrübt worden seid, sondern weil euere Trauer zur Buße hingeleitet hat.“ Denen also, die hingeneigt sind zum Sündigen, müssen wir kein freudiges Gesicht bieten, um sie zu ergötzen; damit wir nicht ihrer Sünde beizustimmen scheinen und gewissermaßen sie ermutigen, weiter zu sündigen. Deshalb sagt Ekkli. 7.: „Hast du Töchter? Habe acht auf ihren Körper und zeige ihnen kein heiteres Gesicht.“
