Zweiter Artikel. Die Freundschaft als Leutseligkeit oder Höflichkeit ist ein Teil der Gerechtigkeit.
a) Dem steht entgegen: I. Die Gerechtigkeit giebt was jedem geschuldet ist. Hier aber handelt es sich nur um angenehmen Verkehr. II. Die Ergötzlichkeiten zügeln, gehört der Mäßigkeit an. Die fragliche Tugend hier aber beschäftigt sich mit dem ergötzlichen oder traurigen Verkehr mit anderen. III. 4 Ethic. 6. heißt es: „Diese Tugend verhält sich gleichmäßig zu Bekannten und Unbekannten, Verwandten und Freunden.“ Das ist aber ungerecht, Gleiches zu leisten gegenüber Ungleichem. Auf der anderen Seite nimmt Macrobius (1. de serm. Scip. 8.) diese Freundschaft als einen Teil der Gerechtigkeit.
b) Ich antworte, diese Tugend sei eine der Gerechtigkeit untergeordnete Tugend. Denn sie kommt mit dieser einerseits darin überein, daß sie sich auf den anderen, den Mitmenschen, bezieht; sie bleibt aber andererseits unter der Gerechtigkeit zurück, weil ihr Gegenstand nicht den vollendeten Charakter des Geschuldeten hat, soweit nämlich das Gesetz oder eine Wohlthat eine Schuld oder Verpflichtung auflegt; — vielmehr kommt das Geschuldete in der Höflichkeit rein aus einer gewissen Wohlanständigkeit.
c) I. Weil der Mensch von Natur gesellschaftlich angelegt ist, schuldet er infolge einer gewissen Wohlanständigkeit die Offenbarmachung der Wahrheit den anderen Menschen; denn ohne das könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen. Ebenso kann der Mensch im Verkehr mit den anderen nicht gut bestehen ohne Annehmlichkeit; denn „niemand kann,“ so Aristoteles 8 Ethic. 5.), „einen ganzen Tag mit einem betrübten zubringen.“ Sonach verpflichtet den Menschen eine gewisse Wohlanständigkeit zu einem angenehmen Verkehr mit den anderen; wenn es nicht bisweilen nötig ist, sie zu betrüben. II. Die Sinnesergötzlichkeiten zügelt die Mäßigkeit. Der angenehme Verkehr aber hat seine Quelle in der Vernunft. III. Aristoteles will sagen, mit allen müsse man verkehren, wie es sich für einen jeden schickt; nicht als ob man in materiell gleicher Weise mit allen umgehen müßte.
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