Erster Artikel. Die zehn Gebote sind Vorschriften der Gerechtigkeit.
a) Das scheint nicht. Denn: I. „Der Gesetzgeber will die Mitbürger tugendhaft machen in aller Tugend,“ heißt es 2 Ethic. 1.; und 5 Ethic. 1.: „Das Gesetz schreibt vor rücksichtlich aller Tugendwerke.“ Die zehn Gebote aber enthalten die ersten Principien des ganzen göttlichen Gesetzes. Also gehören sie nicht einzig der Gerechtigkeit an. II. Der Gerechtigkeit entsprechen vorzugsweise die richterlichen Vorschriften im Gesetze. Die zehn Gebote aber sind keine richterlichen, sondern moralische Vorschriften. (I., II. Kap. 100, Art. 3.) III. Das Gesetz berücksichtigt vorzugsweise jene Thätigkeiten, welche unmittelbar auf das Gemeinbeste sich beziehen; wie z. B. die öffentlichen Amter u. dgl. Davon steht aber nichts in den zehn Geboten. IV. Die zehn Gebote werden nach zwei Tafeln unterschieden. Die erste Tafel bezieht sich auf die Liebe Gottes, die zweite auf die Liebe des Nächsten. Also bezieht sich der Dekalog überhaupt auf die Liebe. Auf der anderen Seite werden durch die zehn Gebote unsere Beziehungen zum anderen: zu Gott nämlich und zu den Mitmenschen, geregelt. Dies aber gehört der Gerechtigkeit an, auf den anderen sich zu beziehen.
b) Ich antworte, die zehn Gebote seien die ersten Principien des Gesetzes, denen als an und für sich bekannten Grundwahrheiten die Vernunft von Natur aus zustimmt. Zum Gesetze aber gehört als Wesenscharakter, daß etwas geschuldet ist; und dieser Wesenscharakter erscheint am offenbarsten in der Tugend der Gerechtigkeit, welche sich auf den anderen erstreckt. Denn im Bereiche dessen, was sich auf die eigene Person bezieht, erscheint es gleich von Anfang an, daß der Mensch Herr seiner selbst ist und ihm freisteht zu thun was ihm beliebt. Im Bereiche dessen aber, was sich auf den anderen bezieht, erscheint offenbar, daß der Mensch einem anderen gegenüber verpflichtet ist, ihm zu leisten was er muß. Also müssen die zehn Gebote zu der Gerechtigkeit gehören; und sind da die ersten drei Gebote über die Thätigkeiten der Gottesverehrung, welche der hauptsächlichste Teil der Gerechtigkeit ist. Das vierte Gebot betrifft die Thätigkeiten der Hingebung, des zweiten Teiles nämlich der Gerechtigkeit; und die anderen sechs erstrecken sich auf die Thätigkeiten der Gerechtigkeit, im allgemeinen betrachtet, wie sie unter Personen gleichen Standes geübt wird.
c) I. Das Gesetz will wohl alle tugendhaft machen, aber gemäß einer gewissen Ordnung; daß nämlich es vorher Vorschriften in jenen Dingen giebt, in welchen der Charakter des Geschuldeten oder Pflichtmäßigen offener vorliegt; wie eben gesagt. II. Die richterlichen Vorschriften sind nichts Anderes als nähere Bestimmungen und Abgrenzungen der moralischen in Anwendung auf den Nächsten; wie die Ceremonialvorschriften dasselbe thun mit Rücksicht auf den öffentlichen Kult Gottes. Und insoweit gehören auch diese Vorschriften als Bestimmungen und Anwendungen der zehn Gebote zu der Gerechtigkeit. III. Was zum Gemeinbesten gehört, das muß je nach der Verschiedenheit der Menschen in verschiedener Weise bestimmt werden. Und deshalb wurden dergleichen Vorschriften nicht in den Dekalog gesetzt, der zu allen Menschen ohne Unterschied spricht, sondern in die richterlichen Vorschriften. IV. Die Liebe ist der Zweck der zehn Gebote, nach 1. Tim. 1, 5.; die Thätigkeiten der Gerechtigkeit aber sind der Gegenstand der zehn Gebote.
