Vierter Artikel. Die Begierlichkeiten und Ergötzungen des Tastsinnes bilden vorzugsweise den Gegenstand der Mäßigkeit.
a) Dem widerspricht Folgendes: I. Augustin (de morib. Eccl. 19.) schreibt: „Die Aufgabe der Mäßigkeit ist es, jene Begierden zu zügeln und zu beruhigen, welche uns vom Gesetze Gottes und von der Frucht seiner Güte abwenden, … zu verachten alle körperlichen Lockungen und das Menschenlob.“ Nicht aber allein die Ergötzungen des Tastsinnes wenden von Gott ab, sondern auch die der anderen Sinne; und ebenso „die Geldgier als Wurzel alles Bösen.“ (1. Tim. ult.) II. „Wer Geringes verdient hat und sich dessen für wert hält, ist mäßig; aber nicht hochherzig,“ heißt es 4 Ethic. 3. Große oder kleine Ehren aber, von denen da die Rede, sind keine Gegenstände des Tastsinnes. III. Alle Ergötzlichkeiten der Sinne gehören ein und derselben Art an; also sind sie alle insgesamt Gegenstand einer Tugend. IV. Die Ergötzlichkeiten des Geistes sind größer wie die der Sinne. Manchmal aber geht man um ihretwillen, wie z. B. aus Neugierde Vieles zu wissen, vom Gesetze Gottes ab, wie Gen. 3. der Teufel den ersten Menschen Wissenschaft versprochen hat: „Ihr werdet sein wie Gott, wissend das Gute und das Böse.“ Also hat die Mäßigkeit auch solche Ergötzungen zum Gegenstande. V. Nicht auf alle Ergötzungen des Tastsinnes richtet sich die Mäßigkeit; wie z. B. nicht auf die im Spielen. Das wäre aber der Fall, wenn diese Art Ergötzlichkeiten den eigensten Gegenstand der Mäßigkeit bildete. Auf der anderen Seite bestimmt in der erwähnten Weise Aristoteles den Gegenstand der Mäßigkeit.
b) Ich antworte, wie die Stärke zum Gegenstande die Furcht hat, so richte sich die Mäßigkeit auf die Ergötzlichkeiten und Begierden. Die Stärke aber geht auf die größten Gefahren, durch welche die Natur im Menschen selber bedroht wird. Also richtet sich die Mäßigkeit ähnlich auf die Begierde nach den größten Ergötzungen. Und weil das Ergötzen die Wirksamkeit der Natur als solche begleitet; so sind Ergötzungen um so heftiger, je mehr sie Thätigkeiten begleiten, welche tiefer in der Natur begründet sind. Im höchsten Grade naturgemäß aber sind den sinnbegabten Wesen jene Thätigkeiten, durch welche die Natur des Einzelwesens vermittelst von Speise und Trank erhalten wird und ebenso die Natur der Gattung vermittelst der Verbindung von Mann und Weib. Und demnach sind die Ergötzungen in Speise und Trank sowie im Geschlechtlichen recht eigentlich der Gegenstand für die Mäßigkeit. Derartige Ergötzungen aber folgen dem Tastsinne. Der eigentlichste Gegenstand der Mäßigkeit also sind die Ergötzlichkeiten des Tastsinnes.
c) I. Augustin nimmt da die Mäßigkeit im allgemeinen Sinne, wonach sie in jeder Tugend Maß hält gemäß der Vernunft. Es kann jedoch auch gesagt werden, daß, wer die heftigsten Ergötzlichkeiten zügeln kann, dazu um so mehr mit Rücksicht auf die geringeren imstande ist; und so gebührt es dem mäßigen, zuerst die Ergötzlichkeiten des Tastsinnes zu zügeln und folgegemäß dann auch die anderen. II. Aristoteles nimmt da „Mäßigkeit“ im übertragenen Sinne mit Rücksicht auf die äußeren Dinge, insofern sie den Fähigkeiten des handelnden entsprechen. III. Die Ergötzungen der anderen Sinne verhalten sich im Menschen nicht so wie im Tiere. Bei den Tieren nämlich bieten die anderen Sinne keinerlei Ergötzen, außer kraft ihrer Beziehung zum Tastsinne. Denn der Löwe ergötzt sich, wenn er den Hirsch sieht oder hört, nur auf Grund der Begierde nach Speise. Der Mensch aber ergötzt sich nicht allein in dieser Weise an den anderen Sinnen, sondern auch an und für sich, insoweit nämlich ihr Gegenstand in richtigem Verhältnisse zu denselben steht. Werden also die Ergötzlichkeiten der anderen Sinne auf den Tastsinn bezogen wie bei den Tieren, so erstreckt sich demgemäß auch auf sie die eigentliche Mäßigkeit. Freut sich aber der Mensch z. B. am Anhören der Musik allein, weil dies eben Musik ist; so gehört dieses Ergötzen nicht zur Aufrechthaltung der Natur und sonach ist es nicht Gegenstand der eigentlichen Mäßigkeit. IV. Die geistigen Ergötzungen können ihrer Natur nach größer sein wie die körperlichen. Sie werden aber nicht im selben Maße mit dem Sinne wahrgenommen und beeinflussen somit nicht so sehr das sinnliche Begehren, dessen Leidenschaften die Mäßigkeit regelt. Oder: Die geistigen Ergötzungen sind an sich gemäß der Vernunft; bedürfen also nur nebenbei eines Zügels, insoweit die eine hinderlich sein kann für eine andere größere. V. Nicht alle Ergötzungen des Tastsinnes gehören zur Aufrechthaltung und Bewahrung der Natur; also sind sie nicht alle Gegenstand der Mäßigkeit.
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