Dritter Artikel. Der Gegenstand der Mäßigkeit sind die Begierlichkeiten und Ergötzlichkeiten.
a) Dem widerspricht Folgendes: I. Cicero schreibt (2. de Inv.): „Die Mäßigkeit ist die feste und maßvolle Herrschaft der Vernunft gegenüber der Begierde und gegenüber anderen ungeregelten Seelenbewegungen.“ Also ist die Mäßigkeit gegen alle Leiden schaftlichkeiten gerichtet. II. „Mit dem Guten und Schweren beschäftigt sich die Tugend.“ Schwerer aber erscheint es, die Furcht vor den Todesgefahren zu mäßigen wie die Begierlichkeiten und Ergötzungen, welche wegen der Furcht vor dem Tode verachtet werden. (Aug. 83. Qq. 36.) Also richtet sich die Mäßigkeit nicht auf Begierlichkeiten und Ergötzlichkeiten allein. III. „Zur Mäßigkeit gehört die Annehmlichkeit des Sichselbstbeherrschens,“ sagt Ambrosius (1. de offic. 4.); und Cicero schreibt der Mäßigkeit zu: „die Beruhigung aller Wirrnisse in der Seele und das Maßhalten im Gebrauche der Dinge.“ (1. de offic.) Also muß die Mäßigkeit nicht nur die Begierden und Ergötzungen, sondern auch die äußeren Thätigkeiten des Menschen und Ähnliches regeln. Auf der anderen Seite sagt Isidor: „Die Mäßigkeit ist es, durch welche die Begierde und das sinnliche Ergötzen gezügelt wird.“
b) Ich antworte, die moralische Tugend solle das Gute der Vernunft bewahren gegen das Anstürmen der Leidenschaften. Die sinnliche Thätigkeit nun erstreckt sich einerseits auf das Begehren nach sinnlichen, körperlichen Gütern; und andererseits auf das Fliehen vor den sinnlichen körperlichen Übeln. Die erstgenannte Thätigkeit aber widerstreitet vorzugsweise der Vernunft mit Rücksicht auf das Maßlose. Denn die äußeren, sinnlich wahrnehmbaren Güter sind an sich nicht gegen die Vernunft, vielmehr dienen sie derselben wie Werkzeuge dem Künstler; aber sie richten sich gegen die Vernunft, insoweit das sinnliche Begehren mit Rücksicht auf sie das von der Vernunft vorgeschriebene Maß nicht einhält. Und demgemäß ist es Aufgabe der moralischen Tugend an erster Stelle, derartige Leidenschaften zu regeln, welche das Begehren nach Gutem bedeuten. Die andere Thätigkeit aber, vermittelst deren das sinnliche Begehren das Üble flieht, widerstreitet vorzugsweise der Vernunft; nicht zwar wegen des Maßlosen, aber weil der Mensch oft wegen der Übel, welche das Gute der Vernunft begleiten, von diesem letzteren selber abgeht; und sonach muß die moralische Tugend hier ihre Hauptaufgabe darin finden, Festigkeit zu geben. Wie also die Tugend der Stärke vorzugsweise sich mit den Leidenschaften beschäftigt, welche vor den körperlichen Übeln fliehen; und nur einer gewissen Folgerung gemäß mit der Kühnheit, welche in Hoffnung auf etwas Gutes das Schreckenvolle angreift; — so auch besteht die Tugend der Mäßigkeit vorzugsweise im Zügeln jener Leidenschaften, die auf das Gute sich richten, also der Begierlichkeiten und Ergötzlichkeiten; und nur einer gewissen Folgerung gemäß beschäftigt sie sich mit der Trauer, welche aus der Abwesenheit solcher Ergötzlichkeiten folgt. Denn wie die Kühnheit das Schreckvolle voraussetzt, so setzt die Trauer voraus die Abwesenheit der genannten Ergötzlichkeiten.
c) I. Die Leidenschaften, welche das Üble fliehen, haben zur Voraussetzung die Leidenschaften, welche sich auf das Gute richten. Die in der Abwehrkraft also setzen voraus jene in der Begehrkraft. Insoweit demnach die Mäßigkeit regelt die Leidenschaften in der Begehrkraft, regelt sie folgerichtig auch die anderen, deren Maßhalten dem Maßhalten der ersteren folgt. Denn wer mit Maß begehrt, der hofft auch maßvoll und trauert maßvoll über die Abwesenheit des Begehrbaren. II. Die Begierde schließt einen gewissen Anstoß ein zum begehrten Gute hin und bedarf so des Zügels der Mäßigkeit; die Furcht dagegen zieht sich zurück vor dem Üblen, und da bedarf es der Festigung durch die Stärke. III. Die äußeren Thätigkeiten hängen ab von den inneren Leidenschaften; sind letztere also geregelt, so folgt das Maß in den ersteren von selbst.
