Erster Artikel. „Ehrbar“ ist dasselbe was „tugendhaft“.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. „Das Ehrbare wird um seiner selbst willen erstrebt,“ nach Cicero. (2. de lnv.) Die Tugend aber wird erstrebt wegen der Seligkeit: „Die Glückseligkeit ist der Lohn der Tugend.“ (1 Ethic. 9.) II. „Die Ehrbarkeit ist der Stand der Ehre,“ sagt Isidor. (10 Etymol. H.) Vielem Anderem aber gebührt noch Ehre, wie der Tugend, „welcher eigentlich Lob gebührt.“ (1 Ethic. 12.) III. Die Hauptsache an der Tugend ist die innere freie Wahl. (8 Ethic. 13.) Die Ehrbarkeit aber scheint mehr zum äußeren Benehmen zu gehören, nach 1. Kor. 14.: „Alles unter euch geschehe in Ehrbarkeit und in gebührender Ordnung.“ IV. Die Ehrbarkeit scheint im äußeren Reichtume zu bestehen; nach Ekkli. 11.: „Gutes und Böses, Leben und Tod, Armut und Ehrbarkeit sind von Gott.“ Also fällt die Ehrbarkeit nicht mit der Tugend zusammen. Auf der anderen Seite teilt Cicero (1. de offic.) das Ehrbare in jene vier Haupttugenden, in welche auch die Tugend zerfällt.
b) Ich antworte, „ehrbar“ werde etwas deshalb genannt, weil es Ehre verdient. Ehre aber gebührt einem Vorrange. Da nun das Hervorragendein der Tugend der größte Vorrang im Menschen ist, insoweit die Tugend zu dem im höchsten Grade Guten führt, so ist „ehrbar“ dasselbe wie „tugendhaft“.
c) I. Manches wird nur um seinetwillen, einzig auf Grund des inneren Wesens, begehrt wie z. B. die Seligkeit. Anderes wird an sich, d. h. um seiner selbst willen begehrt, so daß es für sich allein schon so viel Gutes an sich hat, um begehrt zu werden; zudem aber noch wird es auch begehrt um etwas Anderem willen; — und dazu gehören die Tugenden: „Es giebt etwas, was durch seine eigene Gewalt uns anlockt und durch seine Würde anzieht, nämlich die Tugend;“ sagt Cicero (I. c.). II. Gott und die Seligkeit verdienen mehr Ehre wie die Tugend. Aber sie sind uns durch die Erfahrung nicht so bekannt wie dies die Tugenden sind, nach denen wir alle Tage thätig sind. Und deshalb wird die Tugend mit Vorliebe als das Ehrbare bezeichnet. Was tiefer steht als die Tugend, das wird geehrt, weil es zur Tugend beiträgt oder sie vorbereitet; wie der Adel, der Reichtum, die Macht. „Derartige Dinge werden von manchen in Ehren gehalten, aber in Wirklichkeit soll nur der gute geehrt werden;“ sagt Aristoteles. (4 Ethic. 3.) Und sonach gebührt der Tugend Lob, insoweit sie um etwas Anderem willen besteht; danach hat sie den Charakter des Ehrbaren. III. „Ehrbar“ will besagen die Verpflichtung, etwas zu ehren. Die Ehre aber ist ein Zeugnis für etwas Hervorragendes in jemandem. Ein Zeugnis jedoch kann nicht über etwas gegeben werden, was unbekannt ist. Nun ist die innere freie Wahl an sich unbekannt; sie wird allein durch äußere Akte bekannt. Das äußere Benehmen also hat den Charakter des Ehrbaren, insoweit es auf die innere Geradheit hinweist und davon ein Zeichen ist. Demgemäß ist die Ehrbarkeit der Wurzel nach in der inneren freien Wahl; sie wird nach außen hin ausgedrückt durch den äußeren Verkehr, das äußere Benehmen. IV. Nach der Meinung der Menschen macht der Vorrang des Reichtums jemanden der Ehre würdig; und deshalb wird der entsprechende Name manchmal auf den äußeren Glücksstand übertragen.
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