Vierter Artikel. Die Ehrbarkeit ist ein Teil der Mäßigkeit.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. „Die Mäßigkeit ist vielmehr ein Teil des Ehrbaren.“ (Cicer 2. de lnv.) II. 3. Esdr. 3. wird gesagt: „Der Wein macht das Gemüt ehrbar.“ Zu viel Wein, wovon da die Rede, gehört aber vielmehr zur Unmäßigkeit. III. Ehrbar ist, was Ehre verdient. „Die gerechten und starken aber werden am meisten geehrt.“ (1 Rhet. 9.) Also ist das Ehrbare kein Teil der Mäßigkeit. Auf der anderen Seite steht Macrobius und Ambrosius (l. c.).
b) Ich antworte, die Ehrbarkeit sei eine gewisse geistige Schönheit. Schön sein aber ist entgegengesetzt dem Häßlichen oder Schändlichen. Da nun Gegensätze sich wechselseitig beleuchten, so gehört offenbar die Ehrbarkeit zur Mäßigkeit, die ja das für den Menschen Schändlichste und Häßlichste, tierische Ergötzlichkeiten nämlich, fernhält. Deshalb leuchtet schon im Namen der Mäßigkeit das geistig Schöne der Vernunft durch, deren Sache es nämlich ist, die niedrigen Begierden zu leiten und zu lenken, respektive sie zu zügeln; ist ja doch die Vernunft ihrem Wesen nach Maß und Richtschnur. Und so wird die Ehrbarkeit als ein integraler Teil, d. h. als eine Eigentümlichkeit der Mäßigkeit selbst, betrachtet.
c) I. Die Mäßigkeit ist ein subjektiver Teil des Ehrbaren; nämlich eine Tugend, worin dem Wesen nach, unter einem bestimmten besonderen Gesichtspunkte aber, das Ehrbare enthalten; wie in der entsprechenden Gattung die „Art“, wie im „Vernünftigen“ beim Menschen das „Sinnbegabte“ enthalten ist; denn die Mäßigkeit ist eine bestimmte Gattung in der „Art“ Tugend, Tugend aber fällt mit „ehrbar“ zusammen. So nun ist die Ehrbarkeit nicht ein Teil der Mäßigkeit: sie ist nicht ein subjektiver, sondern ein integraler, d. h. als zusammensetzendes Element zum Mäßigkeitsakte tretender Teil. II. Der Wein in den trunkenen macht sie ehrbar nach ihrer Meinung; sie halten sich für groß und ehrenwert. III. Der Gerechtigkeit und Stärke gebührt eine größere Ehre, insofern das ihnen entsprechende Gute höher steht. Der Mäßigkeit gebührt aber nach der Seite hin mehr Ehre, daß sie die häßlichsten Leidenschaften zügelt. Und so hat mehr Ehre die Mäßigkeit, nach dem Apostel: „Unser Unehrbares schließt größere Ehrbarkeit ein;“ nämlich eine solche, die das Unehrbare darin entfernt.
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