Erster Artikel. Die Enthaltsamkeit ist eine Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Aristoteles stellt (7 Ethhic. 1.) die Enthaltsamkeit selbständig neben die Tugend. Also ist sie nicht der Tugend wie ihrer „Art“ untergeordnet. II. „Der Tugend bedient sich niemand schlecht.“ (Aug. 2. de lib. arbitr. 18.) Durch die Enthaltsamkeit aber kann jemand sündigen; wenn er sich z. B. des Guten enthält. III. Keine Tugend zieht den Menschen vom Erlaubten ab. Dies thut aber nach der Glosse zu Gal. 5. (Fides, modestia…) die Enthaltsamkeit; „kraft deren jemand sich des Erlaubten enthält.“ Also ist sie keine Tugend. Auf der anderen Seite sagt Andronicus: „Die Enthaltsamkeit ist ein Zustand, den das Ergötzen nicht überwindet;“ also ist sie lobenswert und somit eine Tugend.
b) Ich antworte; wird der Ausdruck „Enthaltsamkeit“ genommen, soweit jemand sich aller geschlechtlichen Ergötzung enthält (wonach Paulus Gal. 5. die Enthaltsamkeit mit der Keuschheit verbindet), so ist sie vollkommene Tugend und dasselbe wie die Jungfräulichkeit, oder in zweiter Linie wie die Witwenschaft. Andere nehmen die Enthaltsamkeit für gleichbedeutend damit, daß jemand den schlechten Begierlichkeiten widersteht, nur soweit diese in ihm heftig sind. So betrachtet Aristoteles (l. c.) die Enthaltsamkeit und ebenso nehmen dieselbe die collationes Patrum (collat. 12. cap. 10 et 11). In dieser Weise hat freilich die Enthaltsamkeit etwas Tugendhaftes an sich, denn sie stärkt die Vernunft gegen die Leidenschaft; aber sie gelangt nicht bis zum vollendeten Wesenscharakter einer Tugend, welchem gemäß das sinnliche Begehren so der Vernunft unterthan ist, daß in ihm keine heftigen, der Vernunft entgegengesetzten Leidenschaften mehr entstehen. Deshalb sagt Aristoteles, „die Enthaltsamkeit sei keine Tugend, sondern etwas Gemischtes;“ denn sie hat etwas von Tugend, ist aber keine vollendete Tugend. Nehmen wir aber „Tugend“ im weiteren Sinne, wonach jedes Princip lobenswerter Thätigkeit Tugend ist, so wird die Enthaltsamkeit mit Recht eine Tugend genannt.
c) I. Aristoteles stellt die Enthaltsamkeit neben die Tugend, insoweit sie vom vollendeten Tugendcharakter in etwa noch fern ist. II. Der Mensch ist im eigentlichen Sinne das, was er gemäß der Vernunft ist. Der Mensch also „hält sich“ in sich selbst, „entsagend dem, was nicht eigentlich menschlich ist, wenn er an dem festhält, was der Vernunft ihrer Natur nach zukommt. Das Verkehrte aber entspricht nicht der natürlichen Vernunft. Der geraden, gesunden Vernunft nun stehen gegenüber die schlechten Begierlichkeiten; wie der verkehrten Vernunft gegenüberstehen die guten Begierden. Also ist im wahren Sinne enthaltsam, wer beharrt bei der geraden, gesunden Vernunft und sich enthält der schlechten Begierlichkeiten; und nicht jener, der bei der verkehrten Vernunft verharrt und sich des guten Begehrens enthält. Ein solcher ist vielmehr hartnäckig im Bösen. III. Die Glosse spricht da von der vollkommenen Enthaltsamkeit, welche sich auch des Erlaubten enthält um der geistigen Vollkommenheit willen.
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