Zweiter Artikel. Den Gegenstand der Enthaltsamkeit bilden die Begierden nach den Ergötzlichkeiten des Tastsinnes.
a) Das Gegenteil wird behauptet. Denn: I. Ambrosius (l. de offic. 46.) sagt: „Der allgemeine Anstand ist so, daß er in allen Thätigkeiten eine gleichmäßige Form und umfassende Ehrbarkeit in sich enthält.“ Nicht aber jede Thätigkeit gehört zu den Ergötzlichkeiten des Tastsinnes. II. Der Name „Enthaltsamkeit“ bedingt, daß sich jemand in dem der geraden, gesunden Vernunft entsprechenden Guten hält. Manche andere Leidenschaften aber treiben mit größerer Heftigkeit den Menschen von der Vernunft ab als die Begierden nach den Ergötzlichkeiten des Tastsinnes; wie z. B. die Furcht vor Todesgefahren und der Zorn, welcher wie vernunftlos macht, nach Seneca (1. de ira cap. 11). III. Nach Cicero (2. de Inv.) ist es „die Enthaltsamkeit, vermittelst deren die Begierde durch das Anraten der Vernunft geleitet wird.“ Begierde aber wird, so allein stehend, mehr auf Reichtümer bezogen wie auf das Ergötzen des Tastsinnes, nach 1. Tim. ult.: „Die Wurzel aller Übel ist die Begierde“; nämlich die Geldgier. IV. Auch im Gebrauche der Speisen findet sich Ergötzen des Tastsinnes. Die Enthaltsamkeit pflegt aber nur mit Rücksicht auf den Gebrauch des Geschlechtlichen ausgesagt zu werden. V. Manche Ergötzlichkeiten des Tastsinnes sind tierisch, wie der Geschmack an Menschenfteisch, der Mißbrauch des geschlechtlichen Teiles der Tiere oder der Kinder. Auf Derartiges erstreckt sich aber nicht die Enthaltsamkeit. (7 Ethic. 5.) Also sind nicht so im allgemeinen die Ergötzlichkeiten des Tastsinnes Gegenstand der Enthaltsamkeit. Auf der anderen Seite heißt es 7 Ethic. 4.: „Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit beschäftigen sich mit dem Nämlichen, was Gegenstand der Mäßigkeit und Unmäßigkeit ist;“ also mit den Begierlichkeiten nach dem Ergötzlichen des Tastsinnes.
b) Ich antworte, „Enthaltsamkeit“ besage eine gewisse Zügelung, insofern nämlich jemand sich dessen „enthält“, daß er nicht den Leidenschaften folge. Enthaltsam ist man also vorzugsweise mit Bezug auf das, was dazu antreibt, etwas zu erreichen; worin es lobenswert ist, daß die Vernunft den Menschen von diesem Antreiben abziehe. Deshalb ist man im eigentlichen Sinne des Wortes nicht mit Bezug auf jene Leidenschaften enthaltsam, welche von etwas abziehen wie z.B. die Furcht. Denn in diesen Leidenschaften ist es lobenswert, fest zu bleiben im Verfolge dessen, was die Vernunft anordnet. (Kap. 123, Art. 3 u. 4.) Nun sind die der Natur selber entsprechenden Leidenschaften die Principien aller anderen, die noch hinzutreten. Und also treiben die Leidenschaften um so heftiger dazu an, etwas zu erreichen, je mehr sie der Hinneigung der Natur folgen; diese letztere aber treibt in erster Linie zu dem an, was wie die Speise notwendig ist zur Erhaltung des Einzelwesens oder wie das Geschlechtliche notwendig zur Erhaltung der Gattung. Darauf aber beziehen sich gerade die Ergötzungen des Tastsinnes. Also sind letztere der Gegenstand der Enthaltsamkeit.
c) I. Wie die Mäßigkeit auf das Verschiedenste sich richtet, im eigentlichen Sinne aber genommen den Menschen in dem zügelt, was im Menschen das Beste stört; so wird die Enthaltsamkeit vorzugsweise auf das bezogen, worin es am besten und am schwierigsten ist, enthaltsam zu sein; nämlich auf die Ergötzungen des Tastsinnes. Im allgemeinen aufgefaßt aber kann sie für Alles gebraucht werden; und so faßt sie Ambrosius auf. II. Mit Bezug auf die Furcht ist die Enthaltsamkeit nicht lobenswert; da ist es vielmehr die Festigkeit und Stärke. Der Zorn aber treibt wohl zu etwas an; aber dieser Antrieb folgt vielmehr der sinnlichen Wahrnehmung, es sei etwas schädlich, wie der natürlichen Hinneigung. Deshalb wird jemand mit Bezug auf den Zorn nicht schlechthin enthaltsam genannt. III. Ehre, Reichtum sind zwar an sich Güter und somit begehrenswert; aber sie sind nicht erfordert für die Erhaltung der Natur. Mit Bezug auf sie setzen wir hinzu, wie beim Zorne, „enthaltsam rücksichtlich der Ehre“ etc.; wir sagen aber nicht davon „schlechthin“ das Enthaltsame aus. Cicero spricht also im allgemeinen Sinne von Enthaltsamkeit oder er meint unter „Begierde“ die Begierlichkeiten nach den Ergötzungen des Tastsinnes. IV. Die Ergötzungen am Geschlechtlichen sind heftiger; und deshalb pflegen wir mit Bezug auf sie mehr von Enthaltsamkeit zu sprechen als mit Bezug auf Speisen. V. Die Enthaltsamkeit ist ein der menschlichen Vernunft entsprechendes Gut. Sonach wird sie beurteilt gemäß den Leidenschaften, die dem Menschen natürlich sein können. Deshalb sagt Aristoteles (l. c.): „Wenn jemand ein Kind festhält und dasselbe zu verzehren begehrt oder zu geschlechtlichem Vergnügen zu gebrauchen, so wird er, mag er dieses Begehren unterdrücken oder befolgen, nicht schlechthin enthaltsam oder unenthaltsam genannt, sondern nur in gewisser Beziehung.“ Denn das sind unnatürliche Begierden.“
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