Vierter Artikel. Die Mäßigkeit ist vollkommener wie die Enthaltsamkeit.
a) Das scheint nicht. Denn: I. „Kein Abwägen steht auf der gleichen Stufe mit einer enthaltsamen Seele;“ heißt es Ekkli. 26. II. Der Lohn hängt von der Größe des Verdienstes ab. Paulus aber sagt (2. Tim. 2.): „Es wird nicht gekrönt außer wer rechtmäßig gekämpft hat.“ Nun besteht die Enthaltsamkeit im Widerstehen, muß also kämpfen mit den heftigsten Leidenschaften, die der mäßige nicht in solchem Grade hat. Also ist sie besser wie die Mäßigkeit. III. Der Wille ist ein höheres Vermögen wie die Begehrkraft. Die Enthaltsamkeit aber ist im Willen, die Mäßigkeit in der Begehrkraft. Also ist jene besser als diese. Auf der anderen Seite nennt Cicero (2. de lnv.) sowohl wie Andronicus die Enthaltsamkeit eine Nebentugend der Mäßigkeit.
b) Ich antworte; wird die Enthaltsamkeit (s. oben) verstanden als die Entfernung von allen geschlechtlichen Freuden, so steht sie höher als die Mäßigkeit, wenn diese schlechthin genommen wird; wie die Jungfräulichkeit höher steht als die Keuschheit. Wird jedoch die Enthaltsamkeit aufgefaßt als das Widerstehen gegenüber den schlechten Begierlichkeiten, die heftig in einem Menschen auftreten; so ist bei weitem lobenswerter die Mäßigkeit. Denn kraftvoller ist das Gut der Vernunft im mäßigen, wo das sinnliche Begehren selber als bereits bezwungen der Vernunft Unterthan ist; wie im enthaltsamen, wo das sinnliche Begehren noch heftig der Vernunft widersteht. Danach also — und das ist die gewöhnliche Bedeutung des Wortes „Enthaltsamkeit“ — ist die Mäßigkeit vollkommener wie die Enthaltsamkeit.
c) I. Wird jene Stelle so verstanden, daß die vollkommene Enthaltsamkeit (s. oben) gemeint ist, so wiegt im Bereiche der Keuschheit nichts die Enthaltsamkeit auf; denn auch nicht die Fruchtbarkeit des Fleisches in der Ehe ist ein Ersatz für die jungfräuliche oder witwenhafte Enthaltsamkeit. Wird der Name im übertragenen Sinne genommen dafür, daß man sich von allem Unerlaubten enthält; so wird damit gesagt, keine Schätze von Gold und Silber, die dem Wägen unterliegen, seien damit zu vergleichen. II. Die Ursache für die Heftigkeit der Begierde rührt 1. von etwas Körperlichem her. Denn manche besitzen eine solche körperliche Komplexion, daß sie zum Begehren mehr geneigt sind; oder die Gelegenheit dazu haben sie häufiger. Da vermehrt die Heftigkeit oder Größe der Begierlichkeiten das Verdienst; die Schwäche der Begierlichkeit vermindert dasselbe. Es ist 2. die Ursache für die mehr oder minder große und heftige Begierde bisweilen eine geistige und zwar lobwerte; wie die Größe der heiligen Liebe oder die Kraft der Vernunft, z. B. im mäßigen Menschen. Und so vermindert die Größe der Begierde das Verdienst, ihre Schwäche erhöht dasselbe; denn der Geist ist im letzteren Falle stärker. III. Der Wille steht der Vernunft näher wie die Begehrkraft. Die Größe des vernunftgemäßen Guten also wird dadurch mehr gezeigt, daß es bis zu der in größerer Ferne stehenden Begehrkraft vordringt, um sie zu regeln; wie dadurch daß es nur den Willen erreicht. Das Erstere ist bei der Mäßigkeit der Fall; das Zweite bei der Enthaltsamkeit.
