Dritter Artikel. Die Enthaltsamkeit hat ihren Sitz nicht in der Begehrkraft, sondern im Willen.
a) Die Enthaltsamkeit ist in der Begehrkraft. Denn: I. Der Gegenstand der Enthaltsamkeit sind die Ergötzungen des Tastsinnes. Diese aber gehören der Begehrkraft als dem entsprechenden thätigen Vermögen an. Also muß zu dieser Thätigkeit im Verhältnisse der Sitz für die Enthaltsamkeit die Begehrkraft sein. II. Die Unenthaltsamkeit ist in der Begehrkraft. Denn Andronicus sagt: „Die Unenthaltsamkeit ist die Weichlichkeit der Begehrkraft, gemäß welcher sie schlechte Ergötzlichkeiten auswählt, trotz des Verbotes der Vernunft.“ Also ist deren Gegensatz, die Enthaltsamkeit, gleichermaßen in der Begehrkraft. III. Die Enthaltsamkeit ist nicht in der Vernunft; denn da sind nur die Tugenden, welche sich unmittelbar auf das Erkennen richten. Sie ist nicht im Willen; denn ihr Gegenstand sind die Leidenschaften, deren ja keine im Willen sind. Sie ist nicht in der Abwehrkraft; denn sie beschäftigt sich nicht mit deren Leidenschaften. Also ist sie in der Begehrkraft. Auf der anderen Seite nimmt jede Tugend in dem Vermögen, wo sie ist, dessen schlechte Thätigkeit fort. Die Enthaltsamkeit aber entfernt nicht die schlechte Thätigkeit der Begehrkraft; denn der enthaltsame hat schlechte Begierlichkeiten. (7 Ethic. 9.) Also ist sie nicht in der Begehrkraft.
b) Ich antworte; jede Tugend macht, daß das Vermögen, wo sie ihren Sitz hat, nicht mehr in der nämlichen Verfassung ist wie vorher; als nämlich die Tugend noch nicht da war. Die Begehrkraft aber hat ihre schlechten Begierlichkeiten im enthaltsamen ebenso wie im unenthaltsamen und äußert sie in beiden. Also ist offenbar die Enthaltsamkeit nicht in der Begehrkraft. Ähnlich bleibt die Vernunft im enthaltsamen und im unenthaltsamen in der nämlichen Verfassung; denn beide haben die Überzeugung, man dürfe der schlechten Begierlichkeit nicht folgen. Der Unterschied findet sich erst im Auswählen. Denn der enthaltsame leidet wohl heftige Begierlichkeiten, er wählt aber, ihnen nicht zu folgen; während der unenthaltsame folgt trotz der Überzeugung in der Vernunft. Also hat die Enthaltsamkeit ihren Sitz in jenem Vermögen, dessen Thätigkeit das Auswählen ist: im Willen.
c) I. Die Enthaltsamkeit hat nicht die Ergötzlichkeiten des Tastsinnes in der Weise zum Gegenstande, daß sie dieselben leite, regele; sondern daß sie ihnen widerstehe. Das Erste gehört der Mäßigkeit zu. Was aber zum Widerstände anleitet, muß in einem anderen Vermögen sein wie das was antreibt. II. Der Wille kann in Thätigkeit gesetzt werden seitens der Vernunft; und das geschieht beim enthaltsamen; — oder seitens der Begierlichkeit; und das geschieht im unenthaltsamen. Die Enthaltsamkeit also gehört der Vernunft als dem erstbewegenden Elemente, die Unenthaltsamkeit in eben der Weise der Begehrkraft an. Dem Willen gehören beide an als dem nächsten Princip der Thätigkeit, also als ihrem Träger oder Subjekte. III. Der Wille hat in seiner Gewalt, den Leidenschaften zu widerstehen.
