Erster Artikel. Die Demut ist eine Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Tugend ist ein Gut; die Demut aber schließt das Übel der Strafe in sich ein, nach Ps. 104.: „Sie demütigten mit Fesseln seine Füße.“ II. Tugend und Laster stehen sich gegenüber. Demut wird aber manchmal im schlechten Sinne genommen, wie Ekkli. 19.: „Es giebt, die boshafterweise sich demütigen.“ III. Keine Tugend steht einer anderen gegenüber. Die Demut aber scheint gegenüberzustehen der Prachtliebe, die nach Großem strebt; während die Demut vor Großem zurückscheut. IV. „Die Tugend ist eine Verfassung dessen, was bereits vollkommen ist.“ (7 Physic.) Die Demut aber findet sich nur im unvollkommenen, und deshalb auch nicht in Gott, der niemandem Unterthan sein kann. V. Aristoteles zählt die Demut weder unter den Tugenden auf, die sich mit den Leidenschaften beschäftigen, noch als Teil der Gerechtigkeit, die sich auf Thätigkeiten richtet. Also ist sie keine Tugend. Auf der anderen Seite sagt Origenes zu Luk. 1. (Respexit humilitatem): „Recht eigentlich gepriesen wird in der Schrift unter den Tugenden nur die Demut; denn der Heiland sagt: Lernet von mir wie ich sanftmütig bin und demütig von Herzen.“
b) Ich antworte, das schwer zu erreichende Gute habe etwas Anziehendes, nämlich den Charakter selber des Guten; und etwas Abstoßendes, nämlich die Schwierigkeit. Gemäß dem Charakter des Guten ersteht die Bewegung der Hoffnung; die Schwierigkeit läßt erstehen die Verzweiflung. Nun ist oben gesagt worden, bezüglich der begehrenden Thätigkeiten, die antreiben, müsse eine Tugend sein, welche zügelt; und bezüglich der abstehenden, sich zurückziehenden Thätigkeiten müsse eine Tugend sein, die festigt und anspornt. Also existiert mit Rücksicht auf das schwer erreichbare Gute eine doppelte Tugend: eine, welche zügelt und zurückhält, daß man nicht maßlos zum Erhabenen strebe; das ist die Demut; — und eine andere, die bei Schwierigkeiten anspornt und festigt; das ist die Hochherzigkeit. Somit ist die Demut eine Tugend.
c) I. Man kann dem Niedrigen in doppelter Weise anhängen: einmal kraft eines außenstehenden Princips, wenn jemand z. B. vom anderen niedergeworfen wird; und so ist die Demut eine Strafe; — dann kraft des innerlichen Princips. Geschieht dies im Bereiche des Guten, wenn z. B., wie Abraham sprach (Gen. 18.): „Ich will zu meinem Herrn sprechen, da ich Staub und Asche bin,“ jemand seine Ohnmacht sieht und demnach sich je nach seiner Weise dem Verächtlichsten anschließt, so ist es Tugend und zwar die Tugend der Demut; geschieht es im Bereiche des Schlechten, wie wenn jemand seinen Vorzug nicht versteht und sich für dem Tiere gleich erachtet, so ist dies Sünde. II. Insofern die Demut in sich einschließt ein lobenswertes Hinabsteigen zum Niedrigen, ist sie Tugend. Geschieht dies bloß dem Äußeren nach, ist es also Verstellung; so ist dies falsche Demut, von der Augustin sagt (ep. 189.): „sie sei ein großer Hochmut;“ weil man so nämlich zu größerem Ruhme gelangen will. Die wahre Demut als Tugend besteht im Innern der Seele; ist ja doch die Tugend überhaupt nicht in den äußeren Akten, sondern in der inneren Auswahl des Geistes. III. Die Demut unterdrückt das Begehren nach dem Erhabenen, so bald dieses nicht nach der rechten geraden Vernunft sich verhält. Die Prachtliebe treibt den Geist zu Großem an gemäß der gesunden Vernunft. Das ist also kein Gegensatz. IV. Vollkommen schlechthin, also ohne jeden Mangel, ist nur Gott. Es kann etwas jedoch auch vollkommen genannt werden je nach seiner Natur oder seinem Zustande oder gemäß der Zeit; und in diesem letzteren Sinne ist der tugendhafte vollkommen, dessen Vollkommenheit aber vor Gott nur als Mangel dasteht, nach Isai. 40.: „Alle Völker sind vor Dir, als ob sie nichts wären.“ Jedem Menschen kommt also Demut zu. V. Aristoteles handelt von den Tugenden nur mit Rücksicht auf das bürgerliche Leben, in welchem die Unterwürfigkeit des einen unter den anderen durch das Gesetz bestimmt und somit in der öffentlichen Gerechtigkeit enthalten ist. Die Demut aber als Tugend unterwirft vor Allem den Geist Gott dem Herrn und um Gottes willen unterwirft sich der demütige den anderen.
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