Zweiter Artikel. Die Gnade der Prophetie steht der Sprachengabe voran.
a) Dem widerspricht Folgendes: I. Den besseren wird Besseres gegeben. (3. Top. cap. 1.) Die Sprachengabe aber ist eigen dem Neuen Bunde, wie am Pfingstfeste gesungen wird; die Prophetie war mehr eigen dem Alten Bunde, nach Hebr. 1, 1. Also ist letztere nicht so gut wie die erstere. II. Wodurch wir zu Gott hinbezogen werden, ist hervorragender wie das, wodurch wir zu den Menschen hinbezogen werden. Die Sprachengabe aber bezieht uns auf Gott; die Prophetien auf die Menschen, nach 1. Kor. 14.: „Wer in einer fremden Sprache spricht, der spricht zu Gott…, wer aber prophezeit, der spricht zu den Menschen, um sie zu erbauen.“ Also. III. Die Sprachengabe bleibt wie ein Zustand, dessen sich der Mensch nach Gutdünken bedienen kann, so daß 1. Kor. 14. es heißt: „Ich danke meinem Gott, daß ich aller euerer Sprachen mächtig bin.“ So verhält es sich aber nicht mit der Prophetie. (Kap. 171, Art. 2.) Also ist die Sprachengabe besser. IV. Die Erklärung oder Interpretation der Schrift ist unter der Prophetie enthalten; denn kraft desselben Geistes werden die heiligen Schriften erklärt wie sie geschrieben werden. Die Erklärung der Schriftworte aber steht in der Aufzählung (1. Kor. 12.) hinter der Sprachengabe. Also steht die Sprachengabe über der Prophetie. Auf der anderen Seite „ist größer der prophezeit, als der in fremden Sprachen spricht,“ nach 1. Kor. 14.
b) Ich antworte, die Prophetie überrage die Sprachengabe in dreifacher Weise: 1. Die Sprachengabe bezieht sich auf Worte, also auf Zeichen einer geistigen Wahrheit, von welcher Zeichen auch die Phantasiebilder sind, weshalb Augustin (12. sup. Gen. ad litt. 8.) die Sprachengabe dem Schauen vermittelst der Phantasiebilder vergleicht. Die Prophetie aber besteht in der Erleuchtung des Geistes selber, um die vernünftig erkennbare Wahrheit zu erkennen. Wie also die prophetische Erleuchtung voransteht dem Schauen durch Phantasiebilder, so die Prophetie der Sprachengabe. 2. Die Prophetengabe gehört zur Kenntnisnahme von Dingen wie sie in der Wirklichkeit sind; während die Sprachengabe nur auf die Kenntnis von Worten sich richtet. 3. Die Prophetie ist nützlicher:
a) zur Erbauung; denn wer nur Worte spricht, der bedarf noch eines Erklärers, was zur Prophetie gehört; —
b) dem sprechenden, dem die Kenntnis bloßer Worte, ohne daß er deren Sinn auffaßt, zu nichts dient; —
c) den ungläubigen, derenthalben doch die Sprachengabe vorzugsweise verliehen worden; sie würden vielleicht jene, die in fremden Sprachen sprechen, für Thoren halten, wenn nichts erklärt würde, wie die Juden am Pfingsttage meinten, die Apostel seien trunken; durch die Prophetie aber werden die ungläubigen überzeugt und „das Verborgene in ihrem Herzen wird offenbar.“ (1. Kor. 14.)
c) I. Zur Prophetie in ihrer Vollendung gehört nicht nur die rein vernünftige Erleuchtung, sondern auch das Erfassen des Schauens vermittelst von Phantasiebildern. Und ebenso gehört zur vollendeten Wirksamkeit des heiligen Geistes nicht nur das Anfüllen des Geistes mit prophetischem Lichte und der Phantasie mit Schauen vermittelst der Phantasiebilder, wie es im Alten Testamente war; sondern auch daß der heilige Geist nach außen hin die Zunge formt, um die entsprechenden Worte auszusprechen, was Alles im Neuen Bunde nun geschieht, nach 1. Kor. 14.: „Ein jeder von euch hat den heiligen Lobgesang, hat die innere Lehre, hat die Sprache, es ist ihm offenbar geworden die Prophetie.“ II. Durch die Prophetie wird der Mensch zu Gott hingeordnet gemäß dem Geiste und nicht nur gemäß der Zunge. „Wer eine fremde Sprache spricht, der spricht nur zu Gott;“ das will sagen, Gott allein verstehe ihn, nicht die Menschen; diese ziehen keinen Nutzen von ihm. Durch die Prophetie aber tritt der Mensch in lebendige Beziehung zu Gott und den Menschen; also ist sie eine vollendetere Gabe. III. Die prophetische Offenbarung erstreckt sich aus alles beliebige Übernatürliche; wegen ihrer Vollendung also eben kann sie nicht dauernd sein in diesem unvollkommenen Leben, sondern wohnt uns unvollkommen inne nach Art eines vorübergehenden Eindrucks. Die Sprachengabe aber erstreckt sich auf etwas durchaus Beschränktes, nämlich auf die menschlichen Worte; und deshalb widerstreitet es nicht unserem jetzigen unvollkommenen Zustande, daß sie, selbst etwas Unvollkommenes, als ein dauernder vollkommener Zustand in uns sei. IV. Die Schrifterklärung kann auf die Prophetengabe zurückgeführt werden, insoweit nämlich der Mensch erleuchtet wird, um zu verstehen und zu erklären was in den Schriftworten dunkel ist; sei es daß der Grund dieses Dunkels ist die Schwierigkeit in den bezeichneten Gegenständen oder daß diesen Grund bilden die unbekannten Worte, welche ausgesprochen werden, oder die Bilder, welche gebraucht sind, nach Dan. 5.: „Ich habe über dich gehört, daß du Dunkles auslegen und Schwierigkeiten lösen kannst.“ Die Schrifterklärung also steht höher wie die Sprachengabe, nach 1. Kor. 14, 5. Sie steht aber bei der Auszählung hinter der Sprachengabe, weil um Manches zu erklären auch die Sprachengabe notwendig ist.
