Erster Artikel. Nicht jene allem, die in der Befolgung der göttlichen Gebote bereits geübt sind, dürfen in einen Orden treten.
a) Dem steht entgegen Folgendes: I. Christus gab den Rat der Vollkommenheit dem betreffenden Jünglinge erst nachdem dieser gesagt hatte, er habe von Kindheit an die Gebote beobachtet. II. Gregor sagt (hom. 15. in Ezech.): „Niemand gelangt auf einmal bis zur Spitze; vom Geringsten muß jemand anfangen, damit er zu Großem gelange.“ Also muß man zuerst das Geringere gethan, d. h. die Gebote erfüllt haben; ehe man das Vollkommenere, die Befolgung der geistigen Räte, in Angriff nehmen kann. III. Die heiligen Weihen genießen eines gewissen Vorranges in der Kirche wie auch der Ordensstand. Gregor aber schreibt dem Syagrius (ep. 106.): „Zu den heiligen Weihen muß man in geordneter Weise hinansteigen. Denn fallen wird, wer die Zwischenstufen überspringen und sogleich die höchste Spitze erreichen will. Wir wissen wohl, daß die Mauern, nachdem sie aufgeführt sind, nicht eher die Last der Dachziegeln erhalten, als sie von der Feuchtigkeit ihres frischen Entstehens trocken geworden sind; denn wenn, ehe sie fest geworden, sie die Last empfangen, stürzt der ganze Bau zusammen.“ Also erst, nachdem die Übung in den Geboten genügend vorangegangen, darf man in den Ordensstand treten. IV. Zu Ps. 130. (Sicut ablactatus) sagt die Glosse: „Im Mutterleibe der Kirche werden wir zuerst empfangen, solange wir mit den Elementen des Glaubens bekannt gemacht werden. Dann wachsen wir und werden wir genährt in diesem Mutterleibe, solange wir in den Anfängen Fortschritte machen. Das Licht der Welt erblicken wir gleichsam durch die Geburt, wenn wir getauft werden. Durch die Hände der Kirche werden wir dann wie getragen und mit Milch genährt, wenn wir nach der Taufe in guten Werken geübt werden und durch die Milch der reinen Lehre uns nähren, bis wir bereits größer geworden von der Milch der Mutter uns entfernen und hinzutreten zum Tische des Vaters, d. h. wenn wir von der einfachen Lehre her, wo gepredigt wird, Gott sei Fleisch geworden, zum Worte herantreten, welches im Anfange bei Gott war… Weil sie neulich am heiligen Samstage getauft wie durch die Hände der Kirche getragen und mit Milch genährt werden bis zum Psingstfeste, während welcher Zeit nichts Schwieriges angesagt wird, man nicht fastet und nicht zu Mitternacht aufsteht, so fangen sie nun, gestärkt durch den heiligen Geist an, zu fasten und anderes Schwierige zu thun. Viele aber, wie die Häretiker und Schismatiker, haben diese Ordnung verkehrt und sich vor der Zeit von der Milch getrennt; und deshalb gehen sie zu Grunde.“ Diese selbe Ordnung nun verkehren jene, die zum Eintritte in einen Orden solche einladen, welche noch nicht genügend in der Beobachtung der Gebote geübt sind. Also sind sie Häretiker und Schismatiker. V. Die Gebote als das Gemeinsame sind früher wie die Räte, die nur für einzelne Wert haben. Also muß man vom Früheren anfangen, um dann zum Nachfolgenden überzugehen. Denn wer die Räte beobachtet, der hält auch die Gebote; aber nicht umgekehrt. Auf der anderen Seite hat der Herr den Zöllner Matthäus sogleich unmittelbar vom Stande der Sünde zu den Räten der Vollkommenheit gerufen; denn „er verließ Alles und folgte Ihm.“ (Luk. 5.) Also braucht die Beobachtung der Gebote nicht notwendig voranzugehen dem Eintritte in den Ordensstand.
b) Ich antworte, der Ordensstand sei eine gewisse geistige Übung, um zur Vollkommenheit zu gelangen; und diese Übung vollzieht sich, insoweit durch die Ordensregeln die Hindernisse der vollkommenen Liebe entfernt werden. Diese Hindernisse aber bestehen in allem dem, was die Neigungen der Seele an das Irdische fesselt. Da nun eben durch dieses selbe die Beobachtung der Gebote Gottes gehindert wird, insoweit nämlich die ungeregelten Neigungen zum Irdischen den Verlust der Liebe und somit eine schwere Sünde zur Folge haben, so wird durch die Ordensregeln ebenso die Gelegenheit zur Sünde abgeschnitten; wie durch das Fasten die Sünde der Gaumenlust, durch den Gehorsam die des Stolzes etc. ferngehalten wird. Also ist es auch denen, die noch nicht geübt sind in der Beobachtung der Gebote, sehr nützlich, in einen Orden zu treten; denn sie vermeiden in dieser Weise leichter die Sünde.
c) I. Hieronnmus erklärt zu Matth. 19. (haec omnia servavi): „Der Jüngling lügt. Denn wenn er das, was im Gesetze steht: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, erfüllt hätte, wie konnte er dann, als er hörte: Gehe, verkaufe Alles was du hast und gieb es den armen, traurig hinweggehen?“ Er hat nämlich gelogen mit Rücksicht auf das vollkommene Beobachten der Gebote. Deshalb sagt Origenes (tract. 8. in Matth.): „Im Evangelium secundum Hebraeos ist geschrieben, daß nach den Worten des Herrn: Gehe hin und verkaufe Alles, was du hast, der reiche anfing, den Kopf zu schütteln, und daß der Herr zu ihm sprach: Wie sagst du: ich habe das Gesetz und die Propheten gethan, da doch im Gesetze geschrieben steht: Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst? und siehe, viele deiner Brüder, Kinder Abrahams, haben schmutzige Kleider, sterben vor Hunger, während dein Haus voll des Guten ist und von diesem Guten geht nichts aus dem Hause, um diese armen zu trösten? Und so sagte dann der Herr, ihn tadelnd: Gehe hin, wenn du vollkommen sein willst, verkaufe… Denn unmöglich kann man das Gebot erfüllen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, wenn man so reich ist und so viele Besitzungen hat, während andere darben.“ Das ist also von der vollendeten Erfüllung der Gebote zu verstehen, welche in den zwei Geboten der Liebe vollendet werden. Damit sonach der Herr darthue, daß die Vollkommenheit der geistlichen Räte nützlich sei sowohl den unschuldigen als auch den Sündern, berief er den unschuldigen Jüngling und den Sünder Matthäus. Und Matthäus folgte dem rufenden, nicht aber der Jüngling; denn leichter treten Sünder in den Ordensstand ein wie jene, die auf ihre Unschuld stolz sind, denen der Herr sagt (Matth. 21): „Zöllner und Freudenmädchen werden euch vorangehen in das Reich Gottes.“ II. Das Höchste und Niedrigste kann genommen werden: 1. in ein und demselben Stande und in ein und demselben Menschen, und danach steigt offenbar niemand auf einmal bis zur höchsten Stufe hinan; denn jeder, welcher recht lebt, macht Zeit seines Lebens Fortschritte; — 2. mit Rücksicht auf verschiedene Stände, und danach hat einer nicht notwendig, um zum höheren Stande zu gelangen, daß er vom tieferen anfange; wie nicht jeder, der Kleriker sein will, notwendig hat, zuerst im Laienstande sich zu üben; — 3. mit Rücksicht auf die verschiedenen Personen, und so kann der eine sogleich bei einem höheren Stande beginnen und mit einer höheren Stufe der Heiligkeit, als die höchste Stufe ist, die der andere jemals erreichen wird. Deshalb sagt Gregor (2. dial. 1.):„Alle wissen es, von welcher hohen Gnade und Vollkommenheit an der heilige Benedikt bereits als Kind begonnen hat.“ III. Die heiligen Weihen setzen die Vollkommenheit voraus; der Ordensstand geleitet dazu. Das Gewicht der Weihen also muß auf Mauern gelegt werden, die durch' Heiligkeit bereits trocken geworden sind; während das Gewicht des Ordensstandes die Mauern trocknet von der Feuchtigkeitder Leidenschaften. IV. Die Glosse spricht, wie aus den Worten selber hervorgeht, von der richtigen Ordnung im Belehren, daß die leichteren Punkte den schwereren vorangehen. Diese Ordnung verkehren die Häretiker und Schismatiker, zumal was das fleischgewordene und das im Anfange bei Gott seiende Wort, resp. den Unterschied zwischen der menschlichen und der göttlichen Natur, in Christo angeht. Daß den neugetauften nicht gleich Fasten aufgelegt werden ,zeigt, man solle den kaum bekehrten nicht schwere Lasten auflegen, bis sie selbst nicht innerlich dieselben im heiligen Geiste annehmbar finden. Deshalb wird in der Pfingstwoche, nachdem der heilige Geist Kraft mitgeteilt hat, gefastet. „Der heilige Geist aber ist an das Alter nicht gebunden, durch den Tod erlischt Er nicht, der Mutterleib hält Ihn nicht auf,“ sagt Ambrosius zu Luk. 1. Und Gregor sagt (hom. 30. in Evgl.): „Der heilige Geist erfüllt den die Zither spielenden Knaben und macht ihn zum Psalmisten. Er erfüllt den enthaltsamen fastenden Knaben, und macht aus ihm einen gerechten Richter… Keiner Zeit bedarf Er, um zu lehren was Er will; Er berührt den Geist kaum und schon ist dieser belehrt.“ So mahnt Ekkle. 8.: „Nicht ist es in des Menschen Gewalt, den Geist aufzuhalten;“ und 1. Thess. ruft der Apostel aus: „Verlöschet den Geist nicht;“ und Act. 7.: „Ihr widersteht immer dem heiligen Geiste.“ V. Die Liebesgebote sind die hauptsächlichsten und bilden den Zweck aller anderen. Sie können wohl ohne die Räte beobachtet werden, aber mit Hilfe der Räte beobachtet man sie vollkommener. Die anderen Gebote sind den Liebesgeboten untergeordnet, so zwar, daß ohne diese die Beobachtung der Liebesgebote unmöglich ist. So geht also die Absicht, die Liebesgebote vollkommen zu beobachten, der Absicht, die Räte zu halten, als Richtschnur und leitender Grund vorher; bisweilen jedoch folgt die Beobachtung selber der Zeit nach. Die Beobachtung der Liebesgebote aber in gewöhnlicher, für alle berechneten Weise und ebenso die Beobachtung aller anderen Gebote steht zu den Räten im Verhältnisse des Allgemeinen zum Besonderen; denn jene kann bestehen ohne die Räte, nicht aber umgekehrt. Sonach geht der Ordnung der Natur nach die Beobachtung der Gebote, wie sie für alle vorgeschrieben ist, vorher den Räten; nicht aber ist es notwendig, daß sie der Zeit nach vorhergeht, denn nicht eher der Zeit nach ist etwas in der (allgemeinen) Art wie es in der (besonderen) Gattung ist. (Nicht eher ist der Mensch lebend oder seiend wie der Mensch ist.) Die Beobachtung der Gebote aber ohne die Räte hat zum Zwecke die Beobachtung der Gebote mit den Räten, wie das Unvollkommene zum Vollkommenen hinstrebt. Das Vollkommene nun ist früher der Natur (d. h. dem Zwecke und der leitenden Richtschnur) nach wie das Unvollkommene; denn „die Natur hat ihren Ursprung im Vollkommenen.“ (Boëtius 3. de consol. prosa 10.) Nicht aber ist es erforderlich, daß jemand die Gebote zuerst ohne die Räte beobachtet und später mit den Räten; wie es nicht erfordert ist, daß jemand zuerst Esel sei und dann Mensch, oder zuerst verheiratet und dann Jungfrau. Und ebenso ist es nicht notwendig, daß jemand zuerst die Gebote in der Welt erfülle und dann im Orden; zumal das Weltleben nicht zum Ordensleben vorbereitet, sondern eher es hindert.
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