Vierter Artikel. Der Sohn Gottes mußte die Vernunft annehmen.
a) Das scheint nicht, daß der Herr den vernünftigen, menschlichen Geist angenommen habe. I. Wo die Sache selbst gegenwärtig ist, bedarf es keines Bildes von ihr. Nach dem vernünftigen Geiste aber ist der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes. Also brauchte, wo das „Wort“ selber war, kein vernünftiger Geist als dessen Bild zu sein. II. Das größere Licht macht dunkel das kleinere. Das „Wort“ aber ist das größere Licht; denn „es ist das Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt“ (Joh. 1.). Also wird dunkel vor Ihm das kleinere, nämlich die menschliche Vernunft, die eben auch ein Licht ist, nach Prov. 20.: „Die Leuchte des Herrn der lebende Mensch.“ III. Das Annehmen der menschlichen Natur von seiten Gottes wird bezeichnet mit den Worten: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“ Die Vernunft aber ist weder Fleisch noch eine vom Fleische, resp. von den Sinnen in ihrem inneren Wesen abhängige Thätigkeit. Also hat der Sohn Gottes die Vernunft nicht angenommen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de fide as Petr. 14.): „Zweifle nicht daran und halte es standhaft fest, daß unser Herr Christus, der Sohn Gottes, wahres Fleisch, wie dies unserer menschlichen Natur zukommt, und eine vernünftige Seele angenommen hat; da Er von seinem Fleische sagt: Fühlet und sehet, wie ein Geist nicht Fleisch und Bein hat; und von seiner Seele: Ich setze ein meine Seele und nehme sie wieder an mich (Luk. ult.); und von der Vernunft: Lernet von mir, wie ich sanftmütig bin und demütig von Herzen (Matth. 11.). Von Ihm sagt auch Gott durch den Propheten (Isai. 52.): Siehe; einsehen und verstehen wird mein Knabe.“
b) Ich antworte, wie Augustin (haer. 49. et 53.) berichtet, hätten die Apollinaristen schließlich, durch die Zeugnisse der Schrift überwältigt, zugegeben, daß Christus eine Seele gehabt habe; aber sie hätten dann gemeint, in dieser Seele sei anstatt der Vernunft das göttliche Wort gewesen. Jedoch ist dies 1. gegen die Wahrheit des Berichtes der Evangelisten, in welchem gesagt wird, Christus habe sich gewundert (Matth. 8.). Ein Bewundern aber kann ohne Vernunft nicht sein. Denn es schließt in sich ein das Vergleichen der Wirkung mit der Ursache; da dann jemand bewundert, wenn er eine Wirkung sieht, deren Ursache er nicht kennt und deshalb nach ihr forscht (Metaph. 2.). Es widerspricht 2. dem Nutzen der Menschwerdung, der da ist die Rechtfertigung des Menschen. Denn nur auf Grund des vernünftigen Geistes ist die Seele fähig, sündigen oder gerechtfertigt werden zu können. Also mußte an erster Stelle der vernünftige Geist von seiten Gottes angenommen werden. Deshalb sagt Damascenus (3. de orth. fide 6 ): „Gottes Wort hat einen Leib angenommen und eine vernünftige, mit Einsicht begabte Seele. Ganz hat sich Gott mit dem ganzen Menschen verbunden, damit Er mir als einem ganzen Menschen Heil brächte; denn was Er nicht angenommen hat, das ist unheilbar.“ Es widerspricht dies 3. der Wahrheit der Menschwerdung. Denn es ist kein wahrhaft menschliches Fleisch jenes, welches nicht vollendet ist durch eine vernünftige Seele. Hätte Christus keine Vernunft gehabt, so hätte Er kein menschliches, sondern tierisches Fleisch gehabt. „Ein gewisses Tier mit menschlicher Form hätte in diesem Falle der Sohn Gottes angenommen,“ sagt Augustin (l. c.).
c) I. Wo die Sache selber ist, da wird allerdings nicht deren Bild erfordert, um sie zu ersetzen; wie wo der Kaiser ist, die Soldaten keine Ehrfurcht bezeigen seinem Bilde. Es wird aber die Gegenwart der Sache selber dann erfordert, wenn das Bild vollendet werden soll; wie das Bild im weichen Wachs vollendet wird durch das Aufprägen des Stempels und das Bild des Menschen sich im Spiegel ergiebt aus der Gegenwart des Menschen. Also um den menschlichen vernünftigen Geist zu vollenden, war die Gegenwart und somit die Einigung des Wortes mit ihm notwendig. II. Das größere Licht entleert das geringere Licht eines anderen leuchtenden Körpers. Es entleert aber nicht, sondern vollendet das Licht des erleuchteten Körpers. So schwindet bei der Gegenwart des Sonnenlichtes das Licht der Sterne; aber das Leuchten der Luft wird vollendet. Der vernünftige Geist aber ist wie ein Licht, das erleuchtet worden vom Lichte des göttlichen Wortes; und also wird es nicht verdunkelt, sondern vollendet durch die Gegenwart des „Wortes“. III. Freilich ist die Vernunft nicht die Thätigkeit eines Körpers. Das Wesen der menschlichen Seele aber, welche die bestimmende Wesensform und danach die Thätigkeit eines Körpers ist, hat, weil sie höher steht, notwendigerweise in sich das geistige Vermögen, vernünftig zu erkennen. Und deshalb muß ihr ein besser angelegter Körper entsprechen.
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