Sechster Artikel. In Christo war die Gabe der Furcht.
a) Dem steht entgegen: I. Die Hoffnung steht höher wie die Furcht; denn sie ist auf das Gute gerichtet, die Furcht auf das Übel. In Christo aber war nicht die Tugend der Hoffnung; also noch weniger die Gabe der Furcht. II. Auf Grund der Furcht fürchtet jemand die Trennung von Gott, was zur heiligen, keuschen Furcht gehört; oder die Strafe von seiten Gottes, was knechtische Furcht ist. Christus aber konnte nicht die Trennung von Gott fürchten; denn Er konnte nicht sündigen. Unmögliches aber fürchtet man nicht. Also hatte Er nicht die heilige Furcht. III. „Die vollkommene Liebe jagt heraus die Furcht“ (1. Joh. 4.). In Christo aber war vollkommene Liebe, nach Ephes. 3.: „Die über Alles hervorragende Liebe der Wissenschaft Christi.“ Also.
b) Ich antworte, die Furcht richte sich 1. auf ein schreckliches Übel; und 2. auf den, der Gewalt hat, dieses Übel zu verursachen; wie man den König fürchtet, insoweit er die Macht hat zu töten. Nicht aber würde man jenen, der schaden kann, fürchten, wenn er nicht eine sehr hervorragende Gewalt besäße, der nicht leicht widerstanden werden kann. Es wird sonach jemand nur gefürchtet auf Grund seiner hervorragenden Macht und Gewalt. Nicht also war in Christo Furcht mit Rücksicht auf die Trennung von Gott durch die Schuld oder mit Rücksicht auf die Strafe; sondern Gegenstand der Furcht war die große Macht des gefürchteten, also die göttliche Allgewalt, insoweit die Seele Christi vom heiligen Geiste bewegt wurde mittels einer gewissen liebenden Ehrfurcht zu Gott hin. Deshalb heißt es Hebr. 5.: „Er wurde erhört wegen seiner Ehrfurcht.“ Und zwar hatte Christus dieseEhrfurcht in vollerem Maße wie die übrigen Menschen, insoweit Er Mensch war; denn Er stand vor allen Menschen Gott am nächsten. Deshalb schreibt Ihm die Schrift zu: die Fülle der Furcht Gottes.
c) I. Die Tugenden und Gaben sind an sich und im eigentlichen Sinne auf das Gute gerichtet, und erst folgegemäß und in zweiter Linie auf etwas Übles; denn der Tugend gehört es an, „das Werk zu einem guten zu machen.“ Also zum Wesenscharakter der Gabe der Furcht gehört nicht jenes Übel, worauf die Leidenschaft der Furcht sich richtet; ihr Gegenstand vielmehr ist das Hervorragende im göttlichen Gute, durch dessen Gewalt ein Übel zugefügt werden kann. Die Hoffnung aber, als Tugend, ist gerichtet nicht nur auf den Urheber des Guten, sondern auch auf das Gute, insofern es nicht besessen wird. Da also Christus vollkommene Seligkeit besaß der Seele nach, wird Ihm nicht Hoffnung zugeschrieben, wohl aber Furcht. II. Beantwortet; denn der Gegenstand der Gabe der Furcht ist nicht direkt das Übel. III. Die Liebe weist hinaus die knechtische Furcht, deren Gegenstand die Strafe ist. Diese Furcht also war in Christo nicht.
