Vierter Artikel. Die Seele Christi schaut das göttliche Wesen klarer wie dies für jeden anderen seligen der Fall ist.
a) Dem wird widersprochen. Denn: I. Die Vollendung im Erkennen hängt vom Erkenntnismittel ab; wie vollendeter jene Kenntnis ist, welche ein zuverlässiger Beweisgrund vermittelt, wie jene, welche ein bloßer Wahrscheinlichkeitsgrund herbeiführt. Das Erkenntnismittel aber für das Schauen Gottes ist für alle seligen das gleiche; nämlich das göttliche Wesen. Also schaut die Seele Christi nicht klarer und vollendeter wie jede andere. II. Die Vollendung im Anschauen richtet sich nach der Vollendung in der Erkenntniskraft. Diese aber steht in der Seele Christi als einer menschlichen tiefer wie die Erkenntniskraft im Engel. Also sehen die Engel klarer das göttliche Wesen. III. Gott schaut unendlich vollkommener sein eigenes ewiges Werk wie dies der Fall ist für die Seele Christi. Zwischen der Art und Weise also wie Gott sein Wort sieht, und jener, wie die Seele Christi es sieht, sind ohne Ende viele Zwischenstufen der Erkenntnis möglich. Also kann nicht schlechthin gesagt werden, daß die Seele Christi unter allen Kreaturen am vollkommensten das göttliche Wesen schaue. Auf der anderen Seite heißt es Ephes. 1.: „Gott hat Christum gesetzt über alle Fürstentümer und Gewalten, Kräfte und Herrschaften zu seiner Rechten im Himmel, über Alles, was genannt wird, in der Zeit und im künftigen Leben.“ Höher in der himmlischen Herrlichkeit aber ist, wer mit größerer Vollkommenheit Gott schaut. Also schaut Christus klarer und vollkommener das göttliche Wesen, wie dies der Fall ist für jede andere Kreatur.
b) Ich antworte, die selige Anschauung komme einem jeden seligen in um so höherem Grade zu als er teilnimmt am Lichte, welches sich vom Worte Gottes in ihn ableitet, nach Ekkli. 1, 5.: „Der Quell der Weisheit, das Wort Gottes in der Höhe.“ Die Seele Christi ist aber in höherem Grade mit dem „Worte“ verbunden wie jede andere Kreatur; denn sie subsistiert in der Einheit der Person des „Wortes“. Und sonach nimmt sie in höherem Grade den Einfluß des göttlichen Lichtes in sich auf und schaut vollendeter die erste Wahrheit, nach Joh. 1, 14.: „Wir sahen seine Herrlichkeit . . . voll der Gnade und der Wahrheit.“
c) I. Das Erkenntnismittel ist für die Vollendung der Kenntnis entscheidend vom Gegenstande aus; nicht aber vom erkennenden aus. Da giebt den Ausschlag die Vollendung der Erkenntniskraft. Deshalb erkennt auch unter den Menschen kraft des nämlichen Beweisgrundes als Erkenntnismittels von seiten des Gegenstandes der eine vollendeter wie der andere eine Schlußfolgerung. Da nun die Seele Christi mit überfließenderem Lichte ausgestattet war, so erkennt sie vollendeter von dieser Seite her die göttliche Wesenheit; obgleich alle seligen das göttliche Wesen vermittelst dieses Wesens selber sehen. II. Das Anschauen Gottes übersteigt die natürliche Kraft der Vernunft. Die verschiedenen Stufen darin werden also vielmehr berücksichtigt gemäß der Gnadenordnung, in der Christus an der Spitze steht, wie nach der natürlichen Ordnung, in welcher die Engelnatur voransteht der menschlichen. III. Es kann mit Rücksicht auf die persönliche Einigung keine größere Gnade sich finden als die Gnade Christi; und dasselbe gilt von der Anschauung. Jedoch mit Rücksicht auf die unendliche göttliche Macht kann noch mehr Gnade gegeben werden, wenn die Sache an und für sich, und nicht nach den gegebenen Verhältnissen betrachtet wird (vgl. Kap. 7, Art. 12.).
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