Sechster Artikel. Die Sakramente des Alten Bundes verursachten keine Gnade.
a) Das Gegenteil erhellt aus Folgendem: I. Aus dem Glauben an das Leiden Christi haben die Sakramente des Neuen Bundes ihre wirksame Kraft. Solcher Glaube aber war im Alten Bunde, nach 2. Kor. 4.: „Wir haben den nämlichen Geist des Glaubens.“ Also wirkten Gnade auch die Sakramente des Alten Bundes. II. Eine Heiligung vollzieht sich nur vermittelst der Gnade. Durch die Sakramente des Alten Bundes aber wurden die Menschen geheiligt, nach Lev. 8.: „Als Moses geheiligt hatte den Aaron und dessen Kinder in ihren Gewändern.“ III. Beda sagt (hom. circumc.): „Denselben heilsamen Gnadenbeistand leistete unter dem Gesetze die Beschneidung gegen die Erbsünde, welchen jetzt, zur Zeit der offenbar gewordenen Gnade, die Taufe leistet.“ Also wirkte die Beschneidung Gnade, wie jetzt die Taufe es thut. Und da, wie die Taufe dies ist für die Sakramente des Neuen Bundes, die Beschneidung das Eintrittsthor war für die Sakramente des Alten Bundes, so wirkten ähnlich, wie sie, die letzteren alle insgesamt Gnade. Auf der anderen Seite nennt Paulus (Gal. 4.) die Sakramente des Alten Bundes „dürftige und schwache Elemente“, weil nämlich, wie die Glosse bemerkt, „das Alte Gesetz nicht in vollendeter Weise rechtfertigte.“
b) Ich antworte; die Sakramente des Alten Bundes wirkten nicht Gnade aus eigener Kraft, sonst wäre das Leiden Christi nicht notwendig gewesen, nach Gal. 2.: „Wenn die Gerechtigkeit vom Gesetze kommt, so ist umsonst Christus gestorben “ Diese Sakramente konnten gleicherweise nicht Gnade wirken kraft des Leidens Christi. Denn das Leiden Christi wird mit uns verbunden und auf uns angewandt durch den Glauben und die Sakramente. Nun vollzieht sich der Glaube wohl durch eine Thätigkeit der Seele; und danach kann etwas bewegen und bethätigen, wenn es auch der Zeit nach später thatsächliches Sein hat, insoweit es nämlich vorher aufgefaßt wird von der Seele, wie z. B. der Zweck die Seele bewegt, ehe er thatsächlich erreicht ist. Aber die Verbindung des Leidens Christi mit der Seele durch die Sakramente geschieht auf Grund des Gebrauches und der Anwendung von außen thatsächlich bestehenden Dingen, und danach vermag nichts zu bewegen oder in Thätigkeit zu setzen eher als es ist und somit Einfluß ausüben kann auf das wirklich Bestehende. So konnten also die alten Vorväter durch den Glauben an das Leiden Christi gerechtfertigt werden gleichwie wir. Aber es konnte sich vom Leiden Christi als von der einwirkenden Ursache keineKraft in die Sakramente ableiten, ehe es wirklich und thatsächlich bestand. Die Zweckursache nämlich kann wohl bewegen, ehe der Zweck thatsächlich erreicht ist, durch die Sehnsucht nach dem Zwecke. Aber einwirken in der Weise der wirkenden Ursache kann nichts, ehe es Sein hat. Und so enthielten die Sakramente des Alten Bundes keinerlei die Gnade verursachende wirkende Kraft; sondern standen nur als eben so viele Beteuerungen und Bekenntnisie des Glaubens, als Zeichen und Figuren des Leidens Christi da. Sie waren reine Zeichen des Glaubens, durch den wir gerechtfertigt werden.
c) I. Der Glaube an das künftige Leiden Christi konnte als in der Seele befindlich rechtfertigen. Wir aber haben den Glauben an das bereits thatsächlich vollbrachte Leiden Christi und so kann dieses noch dazu rechtfertigen gemäß dem thatsächlichen Gebrauche der Sakramente. II. Jene Heiligung war nur eine figürliche. Dadurch wurden sie nämlich geeignet gemacht für die Gottesverehrung gemäß dem Alten Gesetze, welche durchaus eine Figur war des Leidens Christi. III. Manche sagen, die Beschneidung habe nicht Gnade verliehen, sondern einzig die Sünde hinweggenommen. Dies aber kann nicht sein; denn nur „durch die Gnade werden wir gerechtfertigt“ (Röm. 3, 24.). Deshalb sagen andere, die Beschneidung habe nur so viel Gnade gegeben als zur Entfernung der Schuld genügte; nicht aber für andere positive Wirkungen im geistigen Leben. Aber auch dies ist falsch. Denn vermittelst der Beschneidung konnte man zur Herrlichkeit gelangen, also zur letzten positiven Wirkung der Gnade; — und außerdem mag wohl vom betreffenden Stoffe aus die Entfernung des Mangels vorangehen den positiven Wirkungen; von der Form selber aus geht die positive Wirkung voran, denn im selben Maße wird der Mangel ausgeschlossen wie die Form ihr Subjekt oder den Stoff gemäß sich selber bildet und herstellt. Andere sagen deshalb, die Beschneidung habe Gnade gegeben für diese Wirkung, die da ist das ewige Leben; nicht aber für diese andere, welche im Zurückdrängen der Begierlichkeit besteht; und dies schien auch mir das allein Richtige (4. dist. l. qu. 2. art. 4. qu. 3.). Wer aber genauer prüft, der sieht, daß auch dies falsch ist. Denn die geringste Gnade kann widerstehen jeder Begierlichkeit und das ewige Leben verdienen. Darum scheint dies angemessener, daß man sage, die Beschneidung sei, wie alle anderen Sakramente des Alten Bundes, einzig eine Beteuerung, ein Zeichen des Glaubens gewesen, der da rechtfertigt. Deshalb sagt der Apostel (Rom. 4.): „Abraham erhielt das Zeichen der Beschneidung, das Merkmal der Gerechtigkeit des Glaubens.“ Es ward also in der Beschneidung Gnade gegeben, insoweit die Beschneidung war ein Zeichen des künftigen Leidens Christi (vgl. Kap. 70 unten).
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