Zweiter Artikel. Die menschliche Seele hat ein Für-sich-bestehen.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Was für sich besteht, wird als ein bestimmtes Etwas bezeichnet, auf das gezeigt werden kann mit den Worten: hier oder da ist es. Ein solches Etwas aber ist die menschliche Seele für sich allein nicht; sondern auf das aus Leib und Seele Zusammengesetzte wird gezeigt und dies wird als ein bestimmtes Etwas bezeichnet. II. Was für sich besteht, kann thätig sein. Die Seele aber ist nicht thätig; sie wirkt nicht, wie Aristoteles sagt (I. de anima): „Sagen, daß die Seele empfinde oder geistig erkenne, ist dasselbe wie sagen, daß sie spinne oder baue.“ Die Seele besteht deshalb nicht für sich. III. Wenn die Seele ein Für-sich-bestehen hätte, so müßte eine ihrer Thätigleiten ohne den Körper und ganz unabhängig von letzterem sich vollziehen. Aber selbst das geistige Erkennen geschieht nicht unabhängig vom Körper; denn die Seele kann nicht geistig auffassen ohne Mithilfe des Phantasiebildes, das stofflich ist. Auf der anderen Seite sagt Augustin (10. de Trin. c. 7.): „Wer da sieht, daß die Natur des Geistes wohl Substanz sei, aber nicht körperlich; der sieht, daß jene, die sie für körperlich halten, daher irren, weil sie mit ihr das verbinden, ohne was sie sich keine Natur denken können.“ Die Natur des menschlichen Geistes ist also nicht nur unkörperlich, sondern sie ist Substanz, d. h. für sich bestehend.
b) Ich antworte, es sei durchaus notwendig, daß das Princip vernünftiger Thätigkeit, das wir ja eben des Menschen Seele nennen, ein unkörperliches und für sich bestehendes Princip sei. Denn es ist offenbar, daß wir kraft der Vernunft die Naturen aller Körper zu erkennen vermögen. Jedes Wesen aber, das da einige Dinge erkennen kann, darf kein einziges derselben in feiner Natur haben. Denn wenn eines von diesen Dingen, die es kennt, in seine Natur einträte, so würde dieses ein Hindernis sein für die Kenntnis der anderen. So sehen wir, daß die Zunge des Kranken, welche Bitteres von der Galle her in sich hat, das Süße nicht wahrnehmen kann, sondern daß derselben alles bitter vorkommt. Wenn also das Princip vernünftiger Kenntnis in sich die Natur eines bestimmten Körpers hätte, so vermöchte dasselbe nicht, alle Körper zu erkennen. Jeder Körper aber hat eine ganz bestimmte in festen Schranken eingeschlossene Natur. Unmöglich also kann das vernünftige Erkenntnisprincip ein Körper sein. Und ebenso unmöglich ist es, daß es vermittelst eines stofflichen Organes geistig auffaßt und versteht, denn die beschränkte Natur dieses Organes würde die Auffassung des anderen Körpers verhindern; so wie nicht nur eine bestimmte Farbe in der Pupille das Sehen anderer Farben verhindert, sondern die bestimmte Farbe eines Glases macht auch, daß die darin enthaltene Flüssigkeit in eben derselben Farbe gesehen wird. So also hat das Erkenntnisprincip eine Thätigkeit, deren Natur die Teilnahme eines körperlichen Moments ausschließt, eine Thätigkeit, die ihrem ganzen Wesen nach für sich allein, ohne vom Stoffe getragen zu werden, sich vollzieht. Nichts aber kann für sich allein unabhängig wirken, was nicht für sich allein unabhängig vom Stoffe Sein hat; denn jegliches Ding ist thätig, je nachdem es ist. Deshalb entspricht die Thätigkeit eines Dinges ganz seiner Seinsweise. Wir sagen nämlich nicht, die Wärme macht warm; sondern das, was warm ist, erwärmt. Es erübrigt also, daß die menschliche Seele, die da genannt wird Vernunft oder Einsicht, als etwas Unkörperliches für sich bestehe.
c) I. „Das bestimmte, dieses Etwas da,“ kann in doppelter Weise aufgefaßt werden: einmal für jedes Wesen, das wie auch immer für sich besteht; dann für ein einzelnes Sein, das die Natur einer Gattungsstufe in sich trägt. Im ersten Sinne genommen schließt ein solches Für-sich-bestehen von dem, von welchem es gesagt wird, aus, daß dieses letztere eine bloße Eigenschaft oder ein reiner Zustand ist; und ebenso, daß es eine Form ist, die ihrer ganzen Ausdehnung nach des Stoffes bedarf, um zu. sein, wie die Wärme zum Beispiel. Im zweiten Sinne genommen schließt ein solches Für-sich-bestehen aus die Unvollkommenheit, etwa nur Teil zu sein. Somit würde im ersten Sinne die Hand als „dieses bestimmte Etwas“ bezeichnet werden können; nicht aber im zweiten, denn sie existiert nur als Teil und schließt nicht die vollständige Natur einer Gattung in sich ein. Da nun die menschliche Seele ein Teil der menschlichen Natur ist, so kann sie „dieses Etwas“ im ersten Sinne genannt und so als für sich bestehend bezeichnet werden. Sie kann dies aber nicht im zweiten Sinne, denn so heißt das aus Leib und Seele Zusammengesetzte „dieses Etwas“. II. Aristoteles sagt dies aus der Ansicht und im Namen derer, die das Erkennen als eine stoffliche Bewegung auffaßten; wie der Zusammenhang ergiebt. Oder es wird gemäß dem eben Gesagten geantwortet. Für sich bestehend und demgemäß für sich thätig wird etwas genannt, wenn es nicht bloße Eigenschaft oder reine stoffliche Form ist; mag es auch Teil sein. Jedoch im eigentlichen Sinne hat ein Für-sich-bestehen jenes, was weder Teil noch bloße Eigenschaft ist. Und so hat z. B. das Auge, die Hand kein eigentliches Für-sich-bestehen und danach kein rein selbständiges Wirken. Deshalb werden auch die Thätigkeiten der Teile dem Ganzen zugeschrieben. Wir sagen, der Mensch sieht vermittelst des Auges, er fühlt vermittelst der Hand; und zwar hat dies eine andere Bedeutung als wenn ich sage, das Warme mache warm durch die Wärme, da die Wärme für sich allein in keiner Weise im eigentlichen Sinne wärmt. In dieser Weise wird gesagt, der Mensch erkenne durch die Vernunft oder durch die Seele; und diese Ausdrucksweise wird im eigentlichen Sinne gebraucht. Aber es kann auch gesagt werden, die Vernunft erkenne; sowie man sagt, das Auge sehe; da diese Thätigkeit der Vernunft respektive dem Auge an und für sich ohne Rücksicht auf das Ganze entspricht. III. Körperliches wird erfordert für die Thätigkeit der Vernunft; nicht als ein Organ, durch welches die vernünftige Thätigkeit sich vollzieht, wie z. B. für die Thätigkeit des Sehens ich das Auge bedarf. Vielmehr ist Körperliches für das menschliche Erkennen nur von seiten des Gegenstandes notwendig. Der Erkenntnisgegenstand der Vernunft nämlich, das reine allgemeine Wesen findet sich nicht außen für sich allein bestehend; die Vernunft muß es erst ablösen von den Einzelbedingungen und dazu bedarf sie des Phantasiebildes. Dieses also verhält sich zur Vernunft wie die Farbe zum Sehen, wie das Buch zum Lesen. So aber des Körperlichen bedürfen, das hindert nicht, daß die Vernunft etwas Für-sich-bestehendes sei. Denn sonst bestände auch das Tier nicht für sich, es wäre keine Substanz; da es, um zu sehen, der sichtbaren Gegenstände bedarf.
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