Dritter Artikel. Die Seele erkennt nicht vermittelst angeborener Ideen.
a) Das Gegenteil scheint zu behaupten: I. Gregorius der Große (hom. 29.), der da sagt: „Der Mensch kommt im Erkennen mit den Engeln überein.“ Die Engel aber erkennen durch angeborene Ideen. II. Die materia prima oder der Urstoff ist von Gott zugleich mit den Wesensformen geschaffen, wozu sie das Vermögen hat. Also muß dies auch von der vernünftigen Seele gelten, die höheres Sein hat wie der Urstoff; sie muß von Gott geschaffen sein mit den thatsächlichen Erkenntnisformen und so erkennt sie das Körperliche vermittelst angeborener, von Natur eingeprägter Ideen. III. Es kann jemand nicht die Wahrheit antworten außer rücksichtlich dessen, was er weiß. Aber auch ein Idiot, der sich keine Wissenschaft erworben, antwortet in einzelnen Dingen die Wahrheit; wenn er nur richtig gefragt wird, wie Plato im Menon erzählt. Also hat jemand Kenntnis von den Dingen, ehe er sich Wissenschaft erworben hat. Das aber könnte nicht sein, wenn er keine angeborenen Ideen hätte. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Die Vernunft ist wie eine unbeschriebene Tafel.“
b) Ich antworte: Da jegliche Form ein Princip für entsprechendes Thätigsein ist, so verhält sich ein Wesen in derselben Weise zur Form, wie es sich zu jener Thätigkeit verhält, welche aus dieser Form folgt. Wenn z. B. etwas nach der Höhe hin sich bewegt, weil es leicht ist; so muß das, was nichts als Möglichkeit einschließt, nach der Höhe hin sich zu bewegen, auch nur dem Vermögen nach leicht sein; bewegt es sich aber thatsächlich nach der Höhe, so ist es auch dem thatsächlichen Sein nach leicht. Wir sehen nun aber, daß der Mensch zuweilen nur im Zustande des Vermögens sich befindet für das Erkennen, sei es für das sinnliche Erkennen oder für das vernünftige. Und von einem solchen Zustande des Vermögens geht er über zur Thätigkeit; so zwar, daß er thatsächlich empfindet, weil sinnlich Wahrnehmbares auf ihn einwirkt, und daß er thatsächlich vernünftig erkennt auf Grund des Unterrichts oder eigener Forschung. Also muß man annehmen, die erkennende Seele sei von Natur im Zustande des Vermögens sowohl für die Ähnlichkeiten, welche die Principien für sinnliches Empfinden sind, als auch für die Ähnlichkeiten, welche die Principien sind für vernünftiges Erkennen. Und deshalb nahm Aristoteles an, die Vernunft, vermittelst deren die Seele erkennt, habe keine von Natur angeborenen Ideen, kraft welcher sie ohne weiters thatsächlich erkannte; sondern sie sei im Beginne nur Vermögend für die Aufnahme von geistigen Erkenntnisformen und demgemäßes Erkennen. Plato jedoch meinte, daß die menschliche Vernunft von Natur angefüllt sei mit Ideen, daß aber die Einheit mit dem Körper ein Hindernis sei für das entsprechende thatsächliche Erkennen; wie z. B. das, was thatsächlich leicht ist, gehindert werden kann, zur Höhe hin sich zu bewegen. Das aber scheint nicht wahr zu sein. Denn erstens scheint es nicht wohl möglich, wie die Seele, welche von Natur die Kenntnis von Allem hätte, insoweit vergesse, daß sie in keiner Weise davon etwas wisse, sie habe diese Kenntnis in sich. Denn niemand vergißt, was er von Natur aus weiß; wie z. B. daß das Ganze größer sei wie ein Teil u. dgl. Die Unzuträglichkeit wird noch dringlicher, wenn die Verbindung der Seele mit dem Körper eine auf der Natur begründete ist. (Vgl. Kap. 76, Art. 1.) Denn es wäre ein voller Widerspruch, daß die natürliche Thätigkeit eines Dinges gehindert werde durch das, was ihm natürlich ist. Zweitens aber geht das Falsche der Annahme Platos offenbar daraus hervor, daß, wenn ein Sinn fehlt, auch das entsprechende Wissen alles dessen mangelt, was durch diesen Sinn erfaßt wird; wie z. B. der Blindgeborene keine Wissenschaft von den Farben haben kann. Das könnte nicht sein, wenn die vernünftige Seele von Natur die Erkenntnisformen in sich hätte, durch welche sie alles erkennt.
c) I. Der Mensch erkennt vernünftig wie der Engel; aber die hervorragende Kraft der Vernunft des letzteren hat er nicht. So sind ja auch die niedrigeren Körper, welche eben nach Gregor (I. c.) nur Sein haben, nicht so vollkommen wie die höheren. Denn der Stoff in den niedrigeren Körpern ist nicht durchaus geformt und bethätigt durch die Wesensform; vielmehr bleibt er vermögend für andere Formen, die er dem thatsächlichen Sein nach nicht hat. Der Stoff aber der Himmelskörper ist durchaus vollendet in seiner Form und trägt in sich kein Vermögen mehr, um etwas Anderes zu werden. In der Sonne ist kein Vermögen, Mond zu werden; während im Körper des Menschen das Vermögen ist, Staub zu werden. So ist nun auch die Vernunft des Engels von Natur aus thatsächlich vollendet durch Erkenntnisformen; die Vernunft des Menschen aber ist im Vermögen zu solchen Formen und zur entsprechenden Thätigkeit. II. Der Urstoff hat das Sein überhaupt nur vermittelst der Wesensform. Deshalb mußte er mit diesen Formen geschaffen werden; er kann doch nicht geschaffen werden und nicht Sein haben. Trotzdem jedoch ist er, während er thatsächlich unter einer Wesensform sich findet, zugleich vermögend, um andere Formen zu tragen. Die Vernunft aber im Menschen hat kein substantiales für sich bestehendes Sein vermittelst der Idee; sie ist und bleibt nur immer Vermögen der Substanz „Mensch“. Deshalb besteht hier nicht die Analogie, welche der Einwurf voraussetzt. III. Wenn richtig gefragt wird, so geht man von allgemein bekannten Sätzen aus und kommt zum Besonderen. Dadurch aber wird das Wissen in jenem, der gefragt wird, verursacht. Antwortet er also richtig, so geschieht dies nicht, weil er früher es gewußt, sondern weil er es eben jetzt gelernt hat.
