Zweiter Artikel. Die Vernunft und das Endlose.
a) Es scheint, daß unsere Vernunft Endloses erkennt. Denn: I. Gott überragt alles Endlose. Die Vernunft aber erkennt Gott. II. Unsere Vernunft ist von Natur aus geeignet, die „Arten“ und Gattungen zu kennen. Manche „Arten“ aber, wie die Figur, die Zahl, die Verhältnisse oder Proportionen, enthalten ohne Ende viele Gattungen. III. Würde ein Körper nicht den anderen hindern, daß er den gleichen Ort einnehme; so wären viele Körper zugleich an demselben Orte. Eine Idee aber hindert nicht die andere, zugleich im nämlichen Verstände zu sein; denn viele Ideen sind gleichzeitig in uns im Zustande der Wissenschaft, wenn auch nicht in thatsächlicher Anwendung. Also steht dem nichts entgegen, daß die Vernunft dem Zustande und dem Vermögen nach ohne Ende Vieles versteht. IV. Die Vernunft ist ein unendliches Vermögen, da sie nicht stofflich ist. Ein unendliches Vermögen aber erstreckt sich auf Unendliches. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1 Physic.): „Das Endlose an sich ist unbekannt.“
b) Ich antworte, daß das Vermögen seinem Gegenstände entsprechen muß; und daß deshalb in der Weise die Vernunft sich zum Endlosen oder Unendlichen verhält, wie dieses sich zum eigensten Gegenstande der Vernunft, dem Wesen des stofflichen Dinges, verhält. In den stofflichen Dingen giebt es nun ein Unendliches nur dem Vermögen nach, ein „ohne Ende“; nicht aber ein Unendliches dem Thatsächlichen nach, was nämlich den Grund für sein Wesen und seinen Einzelbestand in nichts außen, sondern nur in sich selber besitzt. Und deshalb besteht in unserer Vernunft ein Unendliches dem Vermögen nach; denn sie versteht immer so, daß sie noch mehr verstehen kann. Im thatsächlichen Erkennen aber oder auch dem Zustande gemäß vermag die Vernunft nichts Unendliches zu verstehen. Nicht im thatsächlichen Erkennen: denn die Vernunft kann nur verstehen, was in ein und derselben Idee enthalten ist. Das Endlose aber ist nicht in ein und derselben Gattungsform enthalten, sonst hätte es den Charakter des Ganzen und Vollendeten; und deshalb kann es nicht anders verstanden werden als daß man davon einen Teil nach dem anderen versteht, wie Aristoteles sagt (3 Physic.): „Wer eine endlose Quantität auffassen will, der faßt etwas so auf, daß noch immer mehr aufgefaßt werden kann; daß außerhalb jeder Auffassung immer etwas liegen bleibt, was nicht aufgefaßt worden.“ Damit also das Endlose aufgefaßt würde dem thatsächlichen Erkennen nach, müßten alle seine Teile gezählt sein, was gegen die Natur eines solchen Endlosen ist. Vom Zustande aber gilt dasselbe. Der Zustand des Wissens nämlich, die Wissenschaft, wird verursacht durch thatsächlich vollzogene Erkenntnisakte. Denn erst gemäß dem, was wir thatsächlich erkannt, haben wir Wissenschaft. Wir könnten also nur dann einen Wissenszustand, der Endloses gemäß eingehender Kenntnis des bestimmten Einzelnen umfaßt, in uns haben, wenn wir das Endlose selber bereits eingehend und in allen seinen bestimmten Teilen erkannt hätten; was unmöglich ist. Nur also dem Vermögen nach erkennen wir Endloses; nicht im Zustande des Wissens und nicht dem thatsächlichen Sein gemäß.
c) I. Gott wird unendlich genannt, weil Er nur Form ist, also in Sich allein den bestimmenden Grund seines Seins hat; in nichts durch irgend welchen Stoff oder überhaupt von außen her begrenzt wird Der Stoff aber wird insoweit unendlich oder vielmehr endlos genannt, weil ihm die ausreichende Form gerade mangelt und so immer etwas Formloses zurückbleibt, was noch etwas werden kann. Weil nun die Form allein das Princip des Erkennens ist, so ist der Stoff gerade als ein unendlicher oder endloser, d. h. als nicht geformt, an sich unerkennbar. Gott aber ist uns nicht bekannt seinem Wesen nach, obgleich Er reinste Form ist; weil wir im gegenwärtigen Leben die natürliche Hinneigung haben zur Erkenntnis der Wesensformen soweit diese den Stoff bilden und formen. Also können wir jetzt Gott einzig durch seine Wirkungen im Stoffe erkennen. II. Unsere Vernunft liest ihre Ideen in den Phantasiebildern. Jene Gattungen von Zahl, Figur etc., die sich also jemand nicht in die Phantasie hineingebildet hat, kann er thatsächlich nicht erkennen; außer soweit sie in der „Art“ und in allgemeinen Principien enthalten sind, was nicht Anderes heißt als dem Vermögen nach und unbestimmterweise erkennen. III. Wenn zwei Körper am gleichen Orte wären, so brauchten sie nicht der eine nach dem anderen in den Ort einzutreten, daß sie so einer nach dem anderen gezählt würden. Letzteres ist aber bei den Ideen der Fall. Die Vernunft kann nicht zugleich durch mehrere Ideen verstehen. Also muß die eine nach der andern eintreten und so sind sie gezählt. IV. Die Vernunft ist unendlich, weil sie ihre Grenzen nicht im Stoffe findet. Und demnach ist sie unendlich im Erkennen, weil sie das Allgemeine vom Stoffe loslöst; somit nicht durch das Einzelne beschränkt wird, sondern vielmehr soweit es an ihr ist, auf endlos viele Einzeldinge sich erstreckt.
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