Dritter Artikel. Die Vernunft erkennt das Zufällige und Freie.
a) Demgegenüber schreibt: I. Aristoteles (6 Ethi. 6.): „Der Gegenstand der Vernunft, der Wissenschaft und der Weisheit ist das Notwendige und nicht das Zufällige.“ II. „Was bisweilen ist und bisweilen nicht ist, wird durch die Zeit gemessen,“ heißt es 4 Physic. Die Vernunft sieht aber ab von der Zeit wie von allen anderen stofflichen Bedingungen. Da also das Zufällige bisweilen ist und bisweilen nicht ist, kann es nicht Gegenstand der Vernunft sein. Auf der anderen Seite ist die Wissenschaft in der Vernunft. Es giebt aber Wissenschaften, welche das Zufällige betreffen; wie z. B. die Moralwissenschaft, welche sich mit den freien Akten des Menschen befaßt; und zum Teil auch die Naturwissenschaft, insoweit sie das dem Entstehen und Vergehen Unterworfene behandelt.
b) Ich antworte; es ist nichts derartig zufällig, daß es nicht etwas Notwendiges in sich einschlösse; wie z. B. es zufällig ist, daß Sokrates läuft; aber die Beziehung des Laufens zur Bewegung ist eine notwendige, denn notwendigerweise bewegt sich Sokrates, wenn er läuft. Zufällig nun ist etwas von seiten des Stoffes her. Denn zufällig ist, was sein kann oder auch nicht sein kann; und das Vermögen folgt dem Stoffe. Notwendigkeit aber folgt der Wesensform; denn was in der Wesensform ist, das wohnt dem Dinge mit Notwendigkeit inne. Der Stoff nun ist Princip für das Einzelsein. Die allgemeine Natur dagegen wird gewonnen durch Loslösung der Wesensform vom Stoffe. Da also das Allgemeine unmittelbar Gegenstand der Vernunft, das Besondere unmittelbar und direkt Gegenstand des Sinnes ist und nur (vgl. oben) unmittelbar und auf Grund der Phantasiebilder Gegenstand der Vernunft, so wird auch das Zufällige direkt und unmittelbar vom Sinne erkannt; und mittelbar von der Vernunft. Das Notwendige und Allgemeine aber inmitten des Zufälligen ist unmittelbarer Gegenstand der Vernunft als leitende Richtschnur von deren Kenntnis. Wenn also die allgemeinen Seinsgründe innerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Dinge in Betracht kommen, so behandeln alle Wissenschaften das Notwendige. Wenn aber die Dinge selbst berücksichtigt werden, so giebt es Wissenschaften, welche rein auf das Notwendige gerichtet sind; und andere, welche wohl auch das Notwendige zum Gegenstande haben, jedoch inwieweit es im zufälligen stofflichen Sein ist. Damit sind zugleich die Einwürfe gelöst.
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