Siebenter Artikel. Das Schauen der Seligen ist kein erschöpfendes Begreifen des göttlichen Wesens.
a) Es scheint nach dem Apostel, daß die Seligen wirklich Gottes Wesen durchaus begreifen. Denn: I. Phil. 3, 12. wird gesagt: „Ich folge aber nach; ob ich nicht irgendwie begreife;“ und daß er nicht vergebens nachfolgte, sagt er gleichfalls (1. Kor. 9.): „So laufe ich in der Rennbahn, nicht ins Ungewisse hinein.“ Der Apostel also begriff und in derselben Weise „begriffen“ andere, die er dazu ermahnt: „Laufet, daß ihr es begreift.“ II. Augustin erklärt näher dieses Begreifen (ad Paulin. ep. 112. c. 9.): „Jenes wird begriffen, was so als Ganzes gesehen wird, daß davon dem Schauenden nichts verborgen bleibt.“ Wird aber Gottes Wesen gesehen, dann wird, da es sich selber unmittelbar vorstellt, es als Ganzes in seiner ganzen Ausdehnung gesehen und nichts van selbem bleibt verborgen; zumal dasselbe durchaus einfach ist. Es wird also von allen begriffen, die es schauen. III. Wird dagegen bemerkt, das Wesen Gottes werde wohl als ganzes gesehen, aber nicht ganz und gar; so läßt sich das Folgende geltend machen. Dieses „ganz und gar“ bezieht sich entweder auf die Anschauungsweise des Schauenden oder auf die Seinsweise des geschauten Gegenstandes. Aber im ersten Falle schaut er „ganz und gar“; denn er schaut mit der ganzen, ihm zu Gebote stehenden Erkenntniskiaft. Im zweiten Falle schaut er auch „ganz und g»l“; denn er sieht Gott wie Er ist ohne vermittelndes Bild. Also in jedem Falle schaut der Selige begreifend das ganze Wesen Auf der anderen Seite sagtJeremias (32, 18.): „O Allmächtiger, groß und mächtig bist Du; Herr der Heerscharen ist Dein Name. Groß bist Du im Ratschlüsse und unbegreifbar ist Dein Gedanke.“ Also ist Gott unbegreifbar.
b) Ich antworte, daß „Gott zu begreifen eine Unmöglichkeit ist für jede geschaffene Vernunft; erfassen jedoch Gott mit dem Geiste wie auch immer, ist eine hohe Seligkeit“; wie Augustin (sermo 38. de verb. dom. cap. 3.) sagt. Zur Erläuterung dessen ist zu erwägen, daß Alles, was begriffen wird, in ganz vollendeter Weise erkannt ist. In ganz vollendeter Weise aber erkennen, das besagt ebensoviel, wie einen Gegenstand soweit erkennen als selbiger erkennbar ist. Wenn somit etwas kraft eines zuverlässigen wissenschaftlichen Beweisgrundes erkennbar ist und ich kenne es nur kraft einer etwelchen Wahrscheinlichkeit, so begreife ich es nicht. Weiß z. B. jemand diesen Satz, das Dreieck hat zwei R, vermittelst eines festen Beweises, so begreift er denselben; kennt er jedoch nur Wahrscheinlichkeitsgründe dafür, oder nimmt er den Satz etwa nur an, weil weise Männer ihn festhalten, so begreift er denselben nicht; denn er erkennt ihn nicht mit der Vollkommenheit, wie er erkannt werden kann. Keine geschöpfliche Vernunft aber kann Gottes Wesen in jener Vollendung erkennen, wie dasselbe erkannt werden kann. Und das ist klar. Denn jegliches Sein wird insoweit erkannt als es thatsächlich Sein hat. Gott aber ist unbegrenztes, unendliches Sein. Er ist die reinste Thatsächlichkeit selber ohne die geringste Beimischung eines Vermögens, um noch etwas weiteres zu werden Also ist er auch reine, unendliche Erkennbarkeit. Kein geschaffener Verstand aber kann Gott mit unendlicher Vollendung erkennen. Denn nur soweit schaut die geschöpfiiche Erkenntniskraft das Wesen Gottes, als sie das Licht der Herrlichkeit in höherem oder niedrigerem Grade trägt. Da also das geschaffene „Licht der Herrlichkeit“, welche Vernunft auch immer es in sich empfange; nicht unendlich sein kann, so vermag auch keine geschaffene Vernunft Gott mit unendlicher Vollendung, nämlich soweit Gott erkannt werden kann, zu erfassen; und somit ist ein Begreifen der göttlichen Natur von seiten der geschöpflichen Vernunft unmöglich.
c) I. „Begreifen“ oder, „Ergreifen“ kann in zweifacher Weise verstanden werden: einmal im eigentlichen Sinne, soweit das „Begriffene“ vom Begreifenden wahrhaft umgriffen und umschlossen ist; und so wird Gott nie begriffen, weder von einer Vernunft außer der seinigen, noch von etwas Anderem. Denn da Er unendlich ist, kann Er von nichts Geschaffenem und deshalb Endlichem eingeschlossen werden, so daß etwas Endliches Ihn in unendlicher Weise begriffe. Und darum handelt es sich hier. Sodann wird von etwas ausgesagt, es werde begriffen, in uneigentlicher ausgedehnterer Weise, soweit nämlich das Begreifen dem Streben und Verfolgen gegenübersteht, im Sinne von „ergreifen“; wie ich jemanden „ergreife“, wenn ich ihn festhalte. So wird Gott von den Seligen „begriffen“, wie es (Cant. 3. heißt: „Ich habe Ihn festgehalten und werde Ihn nicht mehr von mir lassen.“ Und in diesem Sinne spricht der Apostel. Dieses „Ergreifen“ ist einer der drei Vorzüge der verherrlichten Seele und entspricht dem Streben der Hoffnung, wie das Schauen dem Glauben und das Genießen der Liebe. Denn bei uns wird nicht alles dies besessen und festgehalten, was gesehen wird; weil bisweilen weit Entferntes oder unserer Gewalt Entzogenes gesehen wird. Und ebenso haben wir nicht immer Genuß an dem, was wir besitzen; weil manches nur Mittel zum Zweck ist und somit kein Ergötzen mit sich bringt. Diese drei Vorzüge aber haben die Seligen in Gott. Denn sie schauen Ihn; Ihn schauend halten sie Ihn sich gegenwärtig; und in ihrer Gewalt ist es, Ihn immer zu schauen und in der Fülle seiner Vollendung im Festhalten an Ihn Seiner zu genießen wie des letzten Endzieles, welches alle Sehnsucht anfüllt. II. Nicht deshalb wird von Gott ausgesagt, Er sei unbegreifbar, als ob etwas von Ihm dem Schauenden verborgen bliebe; sondern darum, weil Er so vollkommen gesehen wird, wie Er vom betreffenden Geschöpfe gesehen werden kann. Im Falle z. B., daß ich einen Satz aus Wahrscheinlichkeitsgründen kenne, trotzdem er an sich wohl aus festen wissenschaftlichen Gründen erkannt werden kann, ist mir nichts am Satze selber unbekannt; aber trotzdem erkenne ich denselben nicht in der Vollendung, wie er erkennbar ist. Deshalb fügt Augustin zur obigen Stelle hinzu: „Begriffen wird, von dem nichts dem Schauenden verborgen bleibt oder dessen Grenzen umgriffen und umschlossen werden können.“ Denn dann werden die Grenzen des Gegenstandes durch das Erkennen umschlossen, wenn das letztere soweit reicht, als der Gegenstand erkennbar ist; also bis ans Ende. III. Der Ausdruck: „Ganz und gar“ entspricht der Seinsweise des Gegenstandes, nicht der Art und Weise des Anschauens von seiten des Schauenden. Die ganze Seinsweise des Gegenstandes wird wohl gekannt; aber die Art und Weise, wie der Gegenstand Sein hat, ist nicht die Art und Weise des Erkennenden. Wer also Gott schaut, sieht wohl, daß Gott unendlich ist und unendlich erkennbar. Aber diese unendliche Weise zu sein, wie sie Gott eigen ist, die kommt nicht dem Erkennen des Schauenden zu, daß er nämlich selber in unendlich vollendeter Weise erkenne. So kann jemand wohl wissen, daß ein Satz mit zuverlässig wissenschaftlichen Gründen bewiesen werden kann; er selbst aber kennt diese letzteren nicht, sondern hat nur Wahrscheinlichkeitsgründe.
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