Achter Artikel. Das Verhältnis der Unkenntnis zum Freiwilligen.
a) Die Unkenntnis scheint nicht Unfreiwilliges zur Folge zu haben. Denn: I. Unfreiwilligkeit verdient Nachsicht, wie oben Damascenus sagte. Paulus aber sagt (1. Kor. 14): „Wenn jemand in Unkenntnis ist, der wird nicht gekannt werden,“ wird also keine Nachsicht erhalten und somit ist Unkenntnis nicht Ursache des Unfreiwilligen. II. Jede Sünde ist von Unkenntnis begleitet, wie es Prov. 14. heißt: „Es irren jene, welche Böses thun.“ Also wäre, wenn aus der Unkenntnis Unfreiwilligkeit folgte, jede Sünde etwas Unfreiwilliges, wogegen Augustin (I. Retr. 15.) schreibt: „Jede Sünde ist etwas Freiwilliges.“ III. Unfreiwilliges thut man mit Traurigkeit. (Vgl. oben Damasc.) Manches aber thut man aus Unkenntnis und trotzdem mit Freude; wie wenn jemand z. B. seinen Feind tötet in der Meinung, er töte einen Hirsch. Also Unkenntnis ist nicht die Quelle von Unfreiwilligkeit. Auf der anderen Seite schreibt Damascenus (l. c.): „Manches Unfreiwillige geschieht aus Unkenntnis.“
b) Ich antworte; in dem Maße, daß die Unkenntnis jenes Wissens beraubt, was zum Wesen des Freiwilligen gehört, sei sie auch Ursache des Unfreiwilligen. Nicht jede Unkenntnis aber beraubt ganz und gar des vom Wesen des Freiwilligen vorausgesetzten Wissens. Und deshalb muß man wohl berücksichtigen, daß das Verhältnis der Unkenntnis zum Willensakte ein dreifaches ist: Bald nämlich begleitet die Unkenntnis den Willensakt, bald folgt sie ihm nach, bald geht sie ihm voran. 1. Das erste ist der Fall, wenn die Unkenntnis das betrifft, was augenblicklich geschieht, was jedoch, auch wenn eine Kenntnis vorhanden wäre, geschehen würde; wie in dem eben angeführten Beispiele, daß jemand einen Feind tötet, meinend, es sei ein Hirsch, der sich ihm auf der Jagd darbietet. Hier hat die Unkenntnis nicht den Willen zur Folge, daß dies geschehe; sondern es trifft sich, daß zu gleicher Zeit etwas geschehen sei und Unkenntnis geherrscht habe. Also verursacht eine solche Unkenntnis nichts Unfreiwilliges, wie Aristoteles (l. c.) sagt, denn sie verursacht nichts, was dem Willen zuwider wäre. Sie bewirkt nur, daß etwas vom freien Willen absieht, also nicht mit Absicht geschieht; denn es kann etwas nicht gewollt beabsichtigt sein, was man nicht weiß. Ein non voluntarium ist da die Folge, nicht ein involuntarium. 2. Die Unkenntnis folgt dem Willensakte nach, insofern die Unkenntnis selber freiwillig ist; und das geschieht:
a) wenn der Willensakt sich auf die Unkenntnis richtet; wenn also jemand etwas nicht wissen will, damit er eine Entschuldigung für seine Sünde habe oder damit er nicht von der Sünde abgezogen werde, nach der Stelle bei Job 21.: „Die Kenntnis Deiner Wege wollen wir nicht; — diese Unkenntnis nennt man deshalb „die gewollte“ oder „die zur Schau getragene“, affectata. Ferner wird
b) die Unkenntnis als eine freiwillige bezeichnet, wenn sie das betrifft, was jemand wissen kann und muß. Dies hat statt, wenn jemand thatsächlich etwas nicht betrachtet, was er betrachten oder erwägen kann und müßte; eine solche Unkenntnis kommt entweder von der Leidenschaft oder von einer Gewohnheit und wird genannt „die Unkenntnis, welche der schlechten Auswahl folgt“, ignorantia malae electionis. Es hat dieses selbige ferner statt, wenn jemand um eine Kenntnis oder Wissenschaft, welche er haben müßte, gar nicht sich kümmert; eine solche Unkenntnis betrifft z. B. die allgemeinen Rechtsprincipien, welche man zu wissen verpflichtet ist und deren Kenntnisnahme man vernachlässigt. Da nun also eine Unkenntnis, wie die eben genannte, in ihren beiden Arten freiwillig ist, d. h. vom Willen selber kommt, so kann sie nicht an und für sich, von vornherein die Ursache sein für Unfreiwilliges. Unter einer gewissen Voraussetzung und nach einer Seite hin verursacht diese Unkenntnis Unfreiwilligkeit; insofern sie nämlich, soweit sie einmal da ist, einem gewissen Willensakte vorangeht, der sich auf etwas richtet, worauf er nicht sich richten würde, wenn Kenntnis da wäre. 3. Dem Willensakte geht die Unkenntnis voran, wann sie nicht freiwillig oder gewollt ist und doch die Ursache bildet, daß man etwas will, was man sonst nicht wollen würde; wenn jemand nämlich den Umstand einer Willensthätigkeit nicht kennt, welchen er nicht zu wissen gehalten war und deshalb etwas thut, was, wenn er Kenntnis hätte, er nicht thäte. So z. B. kann jemand trotz angewendeter Sorgfalt, um zu erkennen, ob jemand vorübergehe, einen Pfeil abschießen, welcher einen Vorübergehenden tötet. Und solche Unkenntnis verursacht an und für sich, ohne weiteres und ohne andere Voraussetzung, Unfreiwilligkeit.
c) I. Dieser Einwurf spricht von der Unkenntnis dessen, das zu kennen jemand gehalten ist. II. Hier ist die Rede von der Unkenntnis, welche als das Ergebnis der freien Wahl erscheint; die also demnach gewissermaßen freiwillig ist. III. Dies ist die Unkenntnis, welche den freien Willensakt begleitet.
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