Einführung in die Visitationsverfahren in den Klöstern der unbeschuhten Karmelitinnen
P. Hieronymus Gracián O.C.D., der seit 1573 Visitator und Apostolischer Kommissar zur Visitation bzw. Reform der Klöster der alten Observanz, aber auch der Klöster der Reform war, ließ sich in Ausübung dieses seines Amtes, speziell bei Visitation der reformierten Frauenklöster, manche Fehler zuschulden kommen, die ihm die heilige Theresia trotz ihrer sonstigen großen Bewunderung für ihn und seine Fähigkeiten ungeschminkt vorhielt. So war er z. B. zu milde in seinen Visitationen, lieh gern ein williges Gehör dem Gerede unzufriedener Nonnen, führte wohl auch in diese Klöster neue und überflüssige Gebräuche ein, usw. Demütig, wie er war, nahm P. Hieronymus den Vorhalt der heiligen Mutter geduldig hin. Ja, er bat sie sogar in einem Brief, sie möge ihm ganz offen mitteilen, wie nach ihrer Meinung die Klöster der unbeschuhten Karmelitinnen am besten visitiert werden könnten. Die Heilige, die sich so beim Wort genommen sah, konnte nicht mehr gut ausweichen. Und obwohl es ihr bei ihrer Demut peinlich genug sein mochte, einem Vorgesetzten Weisungen zu erteilen, fügte sie sich dem Auftrag, da ihr das Wohl ihrer geistlichen Töchter zu sehr am Herzen lag, und schrieb eine kurze Anweisung für den Visitator, wie er die Klöster der unbeschuhten Karmelitinnen zu visitieren habe.
Es mag dies wohl, wenigstens nach allgemeiner Annahme, um das Jahr 1576 gewesen sein; denn ein bestimmtes Jahr der Abfassung dieses Schriftchens läßt sich nicht mit Sicherheit angeben. Die Originalhandschrift dieses Werkchens war zusammen mit jener des »Weges der Vollkommenheit« und der »Klosterstiftungen«, wenigstens bis zum Ausbruch der spanischen Revolution, in der Sammlung des Escorial aufbewahrt.
Auch dieses Schriftchen ist wieder ein kleines Meisterstück weisen Maßhaltens und psychologischen Einfühlungsvermögens sowie ihrer guten Kenntnis der weiblichen Psyche. Wie schon in den Satzungen weiß auch hier die Heilige den rechten Mittelweg einzuhalten zwischen Schwächlichkeit und übergroßer Strenge.
Die Weisungen, die sie dem Visitator erteilt, lassen sich in die folgenden zusammenfassen: Der Visitator soll wohl liebenswürdig und freundlich gegen die Schwestern sein, aber er soll ihnen auch zu verstehen geben, daß er um keinen Preis bereit ist, auch nur den kleinsten Punkt der Regelvorschriften um ihrer Launen willen preiszugeben; er möge sich ja nicht ausschließlich von einfältigen, unzufriedenen, hysterischen Nonnen berichten lassen; er soll sich auch über die kleinsten Einzelheiten des klösterlichen Lebens Aufklärung verschaffen; denn da es nach ihrer Ansicht in Klöstern wie denen des reformierten Karmels keine Gelegenheiten zu schweren Sünden gebe, suche der Teufel auch die unbedeutendsten Anlässe zu benutzen, um sich einzuschleichen; der Visitator solle um keinen Preis den Priorinnen erlauben, daß sie den Schwestern Bußwerke nach eigenem Ermessen aufbürden oder sonstwie die Regelvorschriften noch verschärfen; er selbst, der Visitator, möge sich wohl hüten, die Schwestern, die ohnehin schon durch die genaue Erfüllung ihrer Vorschriften genug zu tragen haben, auch noch mit anderen Abtötungen zu überladen.
P. Ambrosius a S. Teresia O. C. D. (Rom)
