Die Sehnsucht des Christen
Was also werden wir sein, wenn wir das sehen werden? Was ist uns verheißen? „Wir werden ihm ähnlich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Nach Vermögen kündete es die Zunge, das andere denke im Herzen! Denn was sagte selbst ein Johannes, wenn man es mit dem vergleicht, der ist, oder was können wir, Menschen weit unter seinem Verdienst, sagen? Kehren wir also zurück zu jener „Salbung“, die innen lehrt, was wir nicht aussprechen können; und weil euch jetzt die Schau verwehrt ist, sei euer Dienst im Verlangen!
S. 58Das ganze Leben des Christen ist heilige Sehnsucht. Wonach du dich aber sehnst, das siehst du noch nicht. Aber durch die Sehnsucht gewinnst du die Fähigkeit, dich beim Kommen dessen, was du sehen willst, erfüllen zu lassen. Wie du, wenn du einen Raum füllen willst und die Größe der Gabe kennst, die du erhältst, den Rauminhalt des Sackes oder Schlauches oder was es sonst ist, erweiterst — du weißt ja, wieviel du hineinstecken willst, und siehst die Enge des Raumes — und durch die Ausweitung mehr Platz schaffst, so dehnt Gott durch den Aufschub die Sehnsucht und dehnt durch die Sehnsucht das Herz aus, um es durch die Ausdehnung aufnahmefähig zu machen. Haben wir also Verlangen, Brüder, weil wir angefüllt werden müssen! Seht, wie der heilige Paulus den Raum ausdehnt, um fassen zu können, was kommen wird! Er sagt nämlich: „Nicht als ob ich es bereits erfaßt hätte oder bereits vollendet wäre; Brüder, ich bilde mir noch nicht ein, es ergriffen zu haben.“ Was also tust du in diesem Leben, wenn du es noch nicht ergriffen hast? „Eines aber: Was hinter mir liegt, das vergesse ich; ich strecke mich aus nach dem, was vor mir liegt; ich jage dem Ziele nach, dem Siegespreis der himmlischen Berufung“ (Phil. 3, 13 f.). „Ausgestreckt“ nannte er sich und sagte, daß er dem Ziele nachjage. Zu gering fühlte er sich, zu ergreifen, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gedrungen ist. Dies ist unser Leben: in der Sehnsucht uns zu üben. So weit aber üben wir uns in heiliger Sehnsucht, als wir unser Verlangen von der Weltliebe abscheiden. Wir haben es schon S. 59einmal gesagt: Leere aus, was angefüllt werden soll! Mit Gutem sollst du angefüllt werden, drum gieß das Böse aus! Mit Honig gleichsam will Gott dich anfüllen; wenn du voll Essig bist, wo wirst du den Honig unterbringen? Ausgeschüttet muß der Gefäßinhalt und gereinigt muß das Gefäß werden; gereinigt muß es werden, wenn’s auch Mühe schafft und Plag, damit es brauchbar werde. Strecken wir uns also nach Gott aus, damit er uns erfülle, wenn er kommt! Denn „wir werden ihm ähnlich sein, weil wir ihn sehen werden, wie er ist (Tr. 4, 6).