Die Liebe, die Schönheit der Seele
„Wir lieben Gott, weil er uns zuvor geliebt hat“ (4, 19). Denn wie sollten wir ihn lieben, wenn er uns nicht zuvor geliebt hätte? Durch die Liebe sind wir seine Freunde geworden; er aber liebte uns als Feinde, damit wir Freunde würden. Er liebte uns zuerst und schenkte uns, daß wir ihn lieben. Noch liebten wir ihn nicht. Die Liebe aber erst macht uns schön. Was macht ein häßlicher und verwachsener Mann, wenn er eine schöne Frau liebt? Oder was tut ein häßliches, verwachsenes, mißgestaltetes Weib, wenn es einen schönen Mann liebt? Wird etwa die Liebe sie schön machen? Wird jenem etwa die Liebe eine schöne Gestalt geben? Er liebt eine schöne Frau; und wenn er sich im Spiegel sieht, errötet er bei dem Gedanken, sein Angesicht zu jener Schönen zu erheben, die er liebt. Was tut er, um schön zu sein? Wartet er vielleicht, bis die S. 131Schönheit kommt? Im Warten kommt aber nur das Alter und macht ihn noch häßlicher. Es gibt also keinen Ausweg für ihn, und man kann ihm keinen Rat geben als höchstens den, daß er sich bezähmen und es nicht wagen soll, als Ungleicher eine Ungleiche zu lieben; oder wenn er sie liebt und sie als Gattin heimzuführen wünscht, an ihr die Keuschheit und nicht die äußere Schönheit des Leibes zu lieben.
Unsere Seele aber, meine Brüder, ist durch die Sünde häßlich: Indem sie Gott liebt, wird sie schön. Wo ist die Liebe, welche die Liebenden schön macht? Gott ist immer schön, niemals häßlich, niemals veränderlich. Er, der immer schön ist, liebte uns zuerst. Und wem sonst schenkte er seine Liebe als Häßlichen und Mißgestalteten? Nicht darum jedoch liebte er uns, um uns häßlich zu lassen, sondern um uns zu ändern und die Häßlichen schön zu machen. Wie also werden wir schön werden? Dadurch, daß wir ihn lieben, der immer schön ist. In dem Maße, als die Liebe in dir wächst, wächst auch deine Schönheit; denn die Liebe ist die Schönheit der Seele. „Wir lieben, weil er uns zuvor geliebt hat.“ Höre den Apostel Paulus: „Es zeigte aber Gott seine Liebe zu uns: da wir Sünder waren, ist Christus für uns gestorben“ (Röm. 5, 8f.), der Gerechte für die Ungerechten, der Schöne für die Häßlichen. Wo finden wir den schönen Jesus? „Schön ist er vor allen Menschenkindern, Anmut ist auf seinen Lippen ausgegossen“ (Ps. 44, 3). Woher? So seht nun, wo der Quell seiner Schönheit ist: „Schön ist er an Gestalt vor allen Menschenkindern“; denn „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei S. 133Gott, und Gott war das Wort“ (Joh. 1, 1). Indem er aber Fleisch annahm, nahm er sozusagen deine Häßlichkeit an, d. h. deine Sterblichkeit, um sich dir gleichzumachen und zu sein wie du und um dich anzueifern, die Schönheit innen zu lieben. Wo finden wir nun, daß Jesus häßlich und mißgestaltet ist, wie wir fanden, daß er schön und wohlgestaltet ist vor allen Menschenkindern? Frage Isaias: „Und wir sahen ihn, und er hatte nicht Gestalt noch Ansehen“ (Is. 53, 2). Das sind wieder gleichsam die beiden Flöten in Dissonanz; aber der eine Geist bläst in die beiden. Jene sagt: „Schön an Gestalt vor allen Menschenkindern“, diese bei Isaias : „Wir sahen ihn, und er hatte nicht Gestalt noch Ansehen“. Durch einen Geist werden die beiden Flöten angeblasen, sie geben keinen Mißklang. Fragen wir den Apostel Paulus; er mache uns die Harmonie der beiden klar! Es erklinge uns das „Wohlgestaltet vor allen Menschenkindern“: „Da er in der Gestalt Gottes war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein“. Es erklinge uns auch das andere: „Wir sahen ihn, und er hatte nicht Schönheit noch Gestalt.“ „Er entäußerte sich selbst, Knechtsgestalt annehmend, den Menschen ähnlich geworden und erfunden als ein Mensch“ (Phil. 2, 6f.). „Er hatte nicht Schönheit und Gestalt“, um dir Schönheit und Gestalt zu geben. Welche Schönheit? Welche Gestalt? Die Liebe; damit du in Liebe deinen Weg gehest und auf deinem Wege die Liebe habest. Schön bist du nun. Aber schau nicht eitel auf dich, damit du nicht verlierst, was du empfangen hast, sondern schau auf den, dem du deine Schönheit verdankst! Darum sei schön, daß er dich liebe.
S. 134Lenke dein ganzes Sinnen auf ihn, eile zu ihm, erbitte seine Umarmung, fürchte die Trennung von ihm, auf daß in dir sei die reine Liebe, die von Ewigkeit zu Ewigkeit bleibt: „Wir wollen lieben, weil er uns zuvor geliebt hat“ (Tr. 9, 9).