Über Joseph
Einleitung
Da die Lebensbeschreibungen der Patriarchen Isaak und Jakob nicht erhalten sind, so folgt auf das Leben Abrahams unmittelbar das Leben Josephs. Das Buch „Über Joseph" (de Josepho) führt eigentlich den Titel: Lebensbeschreibung des Staatsmannes (βίος πολιτικοu). Joseph gilt Philo als Typus des Staatsmannes; der Staatsmann ist aber nach seiner philosophischen Anschauung nur ein Anhang des Weisen, der als Weltbürger nach dem Naturgesetz (dem stoischen ορθος λόγος) lebt, sowie die Einzelstaaten mit ihren Verfassungen und Gesetzen nur Zusätze oder Anhänge des „Grossstaates" d. h. der Welt mit ihrem Welt- oder Naturgesetz sind. Da nun Philo die drei Erzväter als Typen des vollkommenen Weisen geschildert hat, so fügt er gewissermassen als Anhang zu deren Lebensbeschreibungen das Leben des in Joseph verkörperten Staatsmannes hinzu.
Das Buch „Über Joseph" ist in seinem ersten Teile, der bis zur Ernennung Josephs zum Vizekönig in Ägypten reicht, ebenso angelegt wie das Buch „Über Abraham". Die einzelnen Begebenheiten im Leben Josephs werden abschnittweise zuerst einfach nach dem Wortlaut der Bibel, nur mit Hervorhebung der ethischen Momente, wiedererzählt, dann folgt jedesmal die allegorische Erklärung. Im zweiten Teil dagegen, der die Vorgänge zwischen Joseph und seinen Brüdern in Ägypten schildert, ist von allegorischer Deutung gänzlich abgesehen. Philo beginnt mit einem kurzen Hinweis auf die vorausgehenden Lebensbeschreibungen der drei Erzväter (§ 1) und erzählt alsdann den Inhalt des 37. Kapitels des ersten Buches Mosis (§ 2—27): wie Joseph als Knabe die Herden seines Vaters weidete und dadurch eine gewisse Vorbereitung zu seinem staatsmännischen Beruf erhielt, wie er von dem Vater bevorzugt wurde und dadurch den Neid und Hass seiner Brüder erregte, wie dieser durch seine Träume neue Nahrung erhielt, und wie Joseph an die Kaufleute verkauft wurde. In der folgenden allegorischen Erläuterung (§ 28—36) entwickelt Philo auf Grund der Ableitung des Namens Joseph (= Zusatz) seine aus der stoisch-kynischen Philosophie geschöpfte Anschauung von dem Verhältnis der Einzelstaaten zu dem Kosmos und der Einzelverfassungen und Staatsgesetze zu dem Welt- oder Naturgesetz. Der nächste Abschnitt schildert die im 39. Kapitel der Genesis erzählten Erlebnisse Josephs im Hause Potiphars (§ 37—57); hier macht Joseph zwei weitere Vorbereitungsstadien für seinen künftigen Beruf durch, da er sich als guter Hausverwalter und in dem Verhalten gegen die Frau Potiphars als standhafter Charakter bewährt. In der allegorischen Erklärung dieses Abschnitts (§ 58—79) vergleicht Philo Josephs Herrn, den Eunuchen Potiphar, mit dem Volke eines Staates, worin Ochlokratie herrscht, die Frau Potiphars mit der sinnlichen Begierde und Joseph selbst mit dem ernsten Staatsmann, der alle Demagogie verabscheut und der sinnlichen Begierde des Pöbels freimütig entgegentritt und ihr nicht nachgibt, wenn er auch das Schlimmste über sich ergehen lassen muss. Es folgt die Schilderung von dem Verhalten Josephs im Gefängnis und die im 40. Kapitel der Genesis erzählte Deutung der Träume des Obermundschenks und des Oberbäckers (§ 80—98). Darauf wird sogleich auch der Inhalt des 41. Kapitels erzählt, die Träume Pharaos, ihre Deutung durch Joseph und seine Einsetzung als Landesverweser (§ 99—124). Philo wendet sich dann zur allegorischen Erläuterung der beiden Abschnitte; die verschiedenen Träume und ihre Deutung durch Joseph geben ihm Gelegenheit zu einer längeren philosophischen Erörterung, worin er nachweisen will, dass der Staatsmann überhaupt ein Traumdeuter ist (§ 125 bis 150). Es handelt sich dabei aber nicht um die gewöhnlichen Träume der Schlafenden, sondern um den grossen allgemeinen Traum der Wachen: das ganze menschliche Leben ist ein Traum, und der Staatsmann hat die Aufgabe, diesen Traum zu deuten. Wie die Traumerscheinungen nicht der Wirklichkeit entsprechen, so haben auch die Vorstellungen des wachenden Menschen keinen rechten Bestand: sie kommen und gehen in ewigem Wechsel. Alles im menschlichen Leben ist der Veränderung unterworfen, eins ist immer der Tod des andern, nichts ist beständig; nicht nur körperliche und äussere Güter sind vergänglich und wechseln immerfort, auch unsere Sinneswahrnehmungen und Vorstellungen sind trügerisch, und eine sichere Erkenntnis der Dinge ist dem menschlichen Geiste unmöglich. Diese Ausführungen hat Philo wahrscheinlich aus einer skeptischen Quelle geschöpft. Es folgt noch eine zweite allegorische Erklärung, die er nach seiner Angabe von anderen vernommen hat (§ 151—156): der König von Ägypten ist Symbol des menschlichen Geistes; wenn dieser zu sehr auf leibliche Genüsse bedacht ist, hat er besonders dreierlei im Auge, Backwerk, Getränke und die Zukost; daher hat er drei Diener, die ihm diese verschaffen, den Oberbäcker, den Obermundschenk und den Oberkoch. (Brot-)Speise und Trank sind wichtige Nahrungsmittel, deshalb fallen ihre Verwalter in Ungnade, wenn sie ihre Pflichten vernachlässigen; ihr Schicksal ist aber verschieden, weil der Wein nicht so notwendig und unentbehrlich ist wie das Brot. Der ganze übrige Teil des Buches (§ 157—270) gibt hauptsächlich den Inhalt der Kapitel 42—45 der Genesis wieder und schildert in ausführlicher Erzählung die beiden Reisen der Brüder nach Ägypten und die Begebenheiten bis zur Wiedererkennung Josephs, worauf kurz über die Ankunft Jakobs und seiner ganzen Familie in Ägypten berichtet wird. Zuletzt wird noch die Unterredung, die die Brüder mit Joseph nach dem Tode Jakobs hatten, erwähnt, und daran schliesst sich ein kurzer Rückblick auf die wunderbaren Lebensschicksale Josephs.
Die Darstellung ist in diesem Buche stark rhetorisch. Unter Benutzung der in der Bibel enthaltenen kurzen Reden, aber auch ohne solche, lässt Philo an zahlreichen Stellen lange Reden halten, die nach allen Regeln der Kunst gearbeitet sind. Manche von ihnen sind wenig am Platze, und was ihren Inhalt betrifft, so erscheinen die in ihnen ausgesprochenen Gedanken vielfach sehr gesucht (z. B. in der Rede Rubens § 17 ff., in der Klage Jakobs § 23 ff.). Bisweilen kommen in den Reden bestimmte philosophische Theorien vor, die im Munde der betreffenden Persönlichkeiten wenig angemessen klingen. Ungeschickt ist die Rede Josephs an die Frau des Potiphar (§ 42ff.) eingeleitet: Philo lässt ihn (abweichend von der Darstellung der Bibel) seine lange Rede halten in dem Augenblick, da die Frau ihn an seinem Gewande ergriffen hat. Auch einen Anachronismus gestattet sich Philo in dieser Rede, er lässt Joseph auf ein Mosaisches Gesetz im Deuteronomium Bezug nehmen (§ 43). Die Erzählung selbst ist recht lebhaft und hebt die dramatischen Momente der Begebenheiten gebührend hervor.