18.
Und wiederum hat unser Herr seine Kirche1 einer Schafherde verglichen und er selbst wurde Hirt; wie er auch im Evangelium da sagt: „Wen gebe es aus euch, dem eine Schafherde zu eigen wäre, und es verirrte sich ein Schaf davon, [der] nicht die neunundneunzig auf dem Berge in der Wüste zurückließe und hinter dem verlorenen herginge, bis er es sucht und findet?“2 Und dort, wo er gesagt hat: „Fürchte dich nicht, du winzige3 Herde“,4 und dort, wo er sagt: „Siehe wir (!) senden euch wie die Lämmer mitten unter die Wölfe“.5 Und mit vielen Gleichnissen nannte er seine gläubig gewordenen Jünger auch Schafe, und er selbst wurde Hirt. Auch hier wandelte der Herr nach dem Gesetze und den Propheten, weil viele Propheten, Könige und Herrscher, die vor unserem Herrn waren, Hirten geworden sind. Abel, der Gott angenehm war, war im Anfange Hirt; und Abraham, als ihm die Verheißung der Erbschaft gesetzt war, war Besitzer6 von Schafherden;7 und den Jakob nahm er aus den Hirten und Gott redete mit ihm; und den Moses nahm er von den Schafherden weg, und er wurde König und Gesandter8 Gottes; und David ist von den Herden berufen worden und hat als König über Israel geherrscht. Und diese alle sind als Vorläufer unseres Herrn Hirten über die Weiden von Menschen geworden, damit sie zuerst von den Schafherden da lernten,9 wie die Achtsamkeit10 des Hirten bezüglich seiner Herde ist: daß, wenn sich ein Schaf von der Herde verirrt, er es sucht und führt und es in das Innere seiner Hand tut11 und es unter seine Genossen mischt und er S. 47 weiß, wie es geziemend ist, das kranke zu ernähren und das räudige zu salben und das zerbrochene zu verbinden.
Und damit sie erkennen sollen, daß, wie der Hirt sich selbst erniedrigt und sich abmüht wegen seiner Herden, so ihnen Sorge wegen des Weidens der Menschen sein soll. Und betreffs dieser [Dinge] bezeugt auch Ezechiel, der Prophet: „Es erging12 die Rede13 des Herrn an14 mich und sagt: Sohn des Menschen, weissage du über die Hirten Israels und sprich zu ihnen: So spricht der Herr der Allgewaltige: O ihr Hirten Israels, weiden etwa irgendwelche Hirten irgendwo sich selbst? Weiden Hirten nicht die Schafherden? Jetzt, siehe, die Milch esset ihr, das weiche15 zieht ihr an, die fetten zermalmt16 ihr mit den Zähnen und meine Schafe weidet ihr nicht: das krank gewordene heiltet ihr nicht und das schwach gewordene kräftigtet ihr nicht, das zerbrochene verbandet ihr nicht und das leidende tröstetet ihr nicht, das verirrte führtet ihr nicht zurück und das verlorene suchtet ihr nicht, das starke, mächtige17 vernichtetet ihr mit Betrug, das mächtige quältet ihr mit Gewalt und Täuschung; und meine Schafe wurden zerstreut, weil sich kein Hirt für sie fand und sie wurden Nahrung [plur.] für die Tiere der Wüste. Es wurden zerstreut, es gingen in die Irre meine Schafe auf allen hohen Bergen durch das ganze Weltall, und nicht war einer, der gesucht hätte, und nicht war einer, der zurückgeführt hätte. Deswegen, ihr Hirten alle, höret die Worte des Herrn: Lebendig bin ich, spricht der Herr, der Allgewaltige; dafür, daß meine Schafe dem Raube18 überlassen wurden und meine Schafe die Speise für alle Tiere der Wüste wurden, weil sich kein Hirt über sie fand und sie meine Schafe nicht besuchten, sondern jene sich selbst fütterten und meine Schafe nicht weideten, deswegen, Hirten, hört die Wolle des Herrn! So spricht der Herr, der Allgewaltige: Siehe, ich bin über euch Hirten gekommen19 und ich werde meine Schafe von euren Händen zurückfordern, und ich werde abschaffen euch Hirten meiner Schafe, und nicht mehr werden20 sie weiden,21 und ich werde meine Schafe aus ihrem Rachen22 erretten, und nicht mehr werden sie fürder ihnen [zur] S. 48 Speise sein. So spricht der Herr, der Allgewaltige: Siehe, ich werde meine Schafe zurückfordern, und ich werde meine Schafe mustern;23 wie ein Hirt seine Herde mustert am Tage des Nebels und der Dunkelheit, so werde ich sie suchen und sie versammeln aus allen Orten, wohin sie zerstreut worden sind am Tage des Nebels, am Tage der Dunkelheit; und ich werde sie wegnehmen aus den Heiden, und ich werde sie versammeln aus den Ländern“.24 Und wiederum sagt er: „Ich selbst werde meine Schafe weiden, und ich werde sie ruhen lassen, spricht der Herr, der Allgewaltige. Das verloren gegangene werde ich suchen, das verirrte werde ich zurückführen, das zerbrochene werde ich verbinden, das schwach gewordene werde ich stärken, das fette und kräftige werde ich bewahren, und ich werde sie weiden mit Recht und Gerechtigkeit“.25 Hierdurch hat er uns klargemacht, daß er alle Könige und Herrscher hinaustreibt. Wiederum „spricht der Herr, der Allgewaltige: Siehe, ich bin über euch gekommen. Ich werde richten Schaf auf26 Schaf, ich werde auswählen das kräftige unter dem schwachen und das schwache unter dem kräftigen dafür, daß ihr geistlichen Führer27 gestoßen, geschlagen habt und das Schwache unter die Füße getreten habt, bis ihr [sie] hinausgetrieben hattet und meine Schafe zerstreut worden waren. Nun werde ich meine Schafe erretten und nicht mehr werde ich sie der Plünderung aussetzen; und ich werde richten28 Widder auf Widder, Ziegenbock auf Ziegenbock. Und ich werde wieder einsetzen [und] aufstellen über sie einen Hirten, meinen Knecht David, der sie weiden wird, und er wird sie zur Ruhe bringen, und er wird ihnen Hirt sein“.29
Worte der Propheten sind allzeit wahr; aber diese beiden Worte sind verschieden untereinander;30 denn zuerst sagt er: „Ich werde ihnen Hirt sein,“ und darauf sagt er: „David mein Knecht wird sie weiden.“ Dennoch sind diese Worte gleich und übereinstimmend untereinander, da ja31 übernimmt Hirt zu sein der, der Gott ist und Mensch; das [letztere] ist unser Herr, weil er aus der Nachkommenschaft Davids geboren wurde, und Gott ist er, so daß beides in ihm erfüllt ist. Und Isaias der Prophet bezeugt, daß Gott als Erlöser geboren werden würde, er sagt: „Ein Kind ist uns geboren worden und ein Sohn ist uns geschenkt worden; und seine Herrschaft wird auf seine Schultern gegeben werden. Sein Name wird genannt werden: wunderbarer Ratgeber, Gott, Starker“.32 Denn Christus war Gott und Sohn Gottes. Nun ist sich erfüllend an ihm vollendet worden das, was Gott sagt: „Ich werde meinen Schafen ein Hirt sein und ich werde sie weiden.“ Und weil er Sohn Davids ist, ist David selber Hirt geworden; und es wurde das Wort erfüllt, das Gott jenen gesagt hatte: „David, mein Knecht, wird sie weiden, und er wird über sie Hirt sein.“
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Hier wird ohne weiteres für „Glaube“ „Kirche“ eingesetzt. Dasselbe geschieht am Schluß von p. 264, 2. Abs. ↩
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Lk 15,4; Mt 18,12. ↩
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(xxx) ist „sehr (recht) klein“. ↩
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Lk 12,32. ↩
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Lk 10,3; Mt 10,16. ↩
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Herr. ↩
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Schafen. ↩
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Engel, Bote. ↩
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Vgl. hierzu Aphr. 445,7ff.; 453, 20ff.; 1028, 9f. ↩
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Aufsicht. ↩
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Er nimmt es nicht auf seine Schultern, sondern trägt es auf seinen offenen Händen vor sich her. „Auf einem ... Sarkophag, der im Museum zu Algier aufbewahrt wird, sehen wir zwei Hirten, die mit der Linken ein Lamm vor sich an der Brust tragen.“ (Fonck, Die Parabeln des Herrn/2, 878.) ↩
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wurde. ↩
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Worte. ↩
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über. ↩
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Wörtlich: „die weichen (zarten)“; es dürfte damit das weiche Vließ gemeint sein. ↩
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zermahlt. ↩
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Doppelübersetzung! Siehe Ed. Arm. ↩
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der Plünderung. ↩
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Wörtlich: „gekommen [und] angelangt“. ↩
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sollen. ↩
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Transitiv! ↩
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Munde. ↩
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Wörtlicher: „eine Schau (Parade) meiner Schafe abhalten“. ↩
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Provinzen. – Ez 34,1 ff. ↩
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Ez 34,15 f. ↩
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(xxx) „ich werde unterscheiden (entscheiden) zwischen“? Dann ist zu übersetzen: „ich werde richten ein Schaf hinsichtlich des anderen.“ Mutatis mutandis gälte das auch für den folgenden Satz. ↩
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„geistliche Führer“ übersetze ich das armen. (xxx) = „spirituales“. Das wiederholt angeführte große Mechitaristen Wörterbuch gibt, auf unsere Stelle Bezug nehmend, als Bedeutung „starke (mächtige)“ an. Ob diese Bedeutung nicht ad hoc erfunden ist? Im übrigen steht es für mich fest, daß in dem (xxx) drei Wörter (von denen zwei verballhornt sind) stecken und daß das mittlere „ew“ = „und“ ist. ↩
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Wörtlicher: „eine Schau (Parade) meiner Schafe abhalten“. ↩
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Ez 34,20 ff. ↩
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D.h. sie widersprechen sich anscheinend. ↩
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wenn. ↩
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Jes 9,5 (6). ↩