1.
S. 215 Es ist etwas Kostbares um das Schweigen und zwar nicht nur vielfach für so viele andere Menschen, sondern auch ganz besonders für mich im gegenwärtigen Augenblick, wo mir, ich mag wollen oder nicht, der Mund verschlossen und Schweigen aufgenötigt wird. Bin ich ja ungeübt und unerfahren in jenen schönen und glanzvollen Reden, die mit ihren gewählten und gediegenen Worten und Ausdrücken wohlgeordnet wie in unaufhaltsamem Flusse gesprochen oder verfaßt werden. Vielleicht bin ich sogar von Natur aus allzu wenig geeignet mich diesem anmutigen und im vollen Sinne des Wortes hellenischen Werke zu unterziehen. Und wahrlich, es kann nicht anders sein. Es sind ja jetzt schon acht Jahre, seitdem ich weder selbst etwas vorgetragen oder überhaupt eine große oder kleine Rede verfaßt noch einen anderen gehört habe, der für sich etwas geschrieben oder vorgetragen oder auch öffentlich eine Lob- oder Verteidigungsrede gehalten hätte, jene bewunderungswürdigen Männer1 abgerechnet, die sich dem schönen Studium der Weisheit in die Arme geworfen haben. Aber auch diesen ist es weniger um schöne Sprache und zierliche Ausdrücke zu tun. Indem sie den sprachlichen Wohlklang erst in zweiter Linie berücksichtigen, wollen sie das Wesen der Dinge selbst mit Scharfsinn erforschen und zum Ausdruck bringen, nicht als ob ich glaubte, daß ihr Streben nicht dahin ginge — im Gegenteil, sie trachten sogar sehr darnach ihre schönen und scharfsinnigen Gedanken in schöner und wohlgefälliger Rede auszudrücken — aber sie sind vielleicht nicht imstande so ohne weiters den tiefen, heiligen und gottähnlichen Gehalt, der in ihren Gedanken liegt, und andrerseits eine in gefälligen Ausdrücken sich bewegende Rede mit ein und demselben und noch dazu S. 216 beschränkten menschlichen Geist zu umfassen. Es sind dies zwei Vorzüge, die bei den einzelnen Menschen gesondert vertreten und in gewissem Sinn einander geradezu entgegengesetzt sind. Wenn nun auch der denkenden und forschenden Tätigkeit das Schweigen sozusagen befreundet und förderlich ist, so wird man doch die Fertigkeit und den Wohlklang in der Rede nicht wohl anderswo mit Erfolg suchen können als im Vortrag und in ununterbrochener Übung darin.
Indes ist es noch ein anderer Wissenszweig, der meinen Verstand gewaltig in Anspruch nimmt, und der Mund legt die Zunge in Fesseln, wenn ich auch nur etwas weniges in griechischer Sprache vorbringen möchte. Es sind das unsere bewunderungswürdigen Gesetze, nach welchen jetzt die Angelegenheiten aller Untertanen des römischen Reiches geregelt werden und die ohne mühevolle Arbeit weder zustande kamen noch von Grund aus erlernt werden können, da sie an sich schon weise und scharfsinnig, mannigfaltig und bewunderungswürdig, mit einem Worte im höchsten Grade dem hellenischen Geiste entsprechend, außerdem aber in der lateinischen Sprache abgefaßt und übermittelt sind, die da Achtung gebietend und prunkvoll und der kaiserlichen Gewalt angemessen ist, für mich aber immerhin ihre Schwierigkeiten hat. Ich hatte auch in der Tat nicht die Möglichkeit und, ich darf wohl sagen, auch nie den Wunsch sie mir auf andere Weise gründlich anzueignen.
Da nun aber unsere Ausdrücke nichts anderes sind als eine Art Bilder für die Empfindungen unserer Seele, so müssen wir wohl zugeben, daß die befähigten Redner ebenso wie etwa gute Maler, die in ihrer Kunst eine hohe Fertigkeit besitzen und über einen großen Farbenreichtum gebieten, wenn sie nach keiner Seite hin etwas daran hindert, berechtigt sind nicht bloß einerlei Bilder zu malen sondern auch mannigfaltige und solche, die durch reichliche Beimischung von Blumen einen besonderen Grad von Schönheit erreichen.
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Dabei denkt Gregorius an die anwesenden christlichen Philosophen, die Freunde des Origenes (Firmilian, Theoktistus u. s. w.). ↩