1.
VIII. Rede.
Trauerrede auf seine Schwester Gorgonia1.
Wenn ich meiner Schwester eine Lobrede halte, ist es Eigenlob. Doch wahrlich spreche ich nicht deshalb, weil ich Eigenlob verkünde, Unwahres. Nein, weil es wahr ist, verkünde ich das Lob. Wahr aber sind meine Worte nicht nur deshalb, weil sie gerecht sind, sondern auch deshalb, weil sie anerkannt sind. Nach Gunst dürfen wir nicht reden, auch wenn wir wollten. Wie ein gewiegter Richter steht der Zuhörer zwischen Rede und S. 233 Wahrheit, um, wie es sich gebührt, ungehörigen Worten den Beifall zu verweigern und verdiente Worte zu fordern. Nicht fürchte ich, mehr zu sagen, als wahr ist. Wohl aber habe ich Angst, hinter der Wahrheit zurückzubleiben und, viel Wertvolles übergehend, ihren Ruhm durch meine Lobrede zu schmälern. Es ist nämlich schwer, ihrem Charakter in Wort und Tat zu entsprechen. Nicht soll all das, was fremd ist, gelobt werden, was unrecht wäre, noch soll das Eigene, wenn es Ehre verdient, der Ehre beraubt werden; denn im ersten Falle wäre das Fremdsein ein Vorteil, im anderen Falle die Verwandtschaft ein Nachteil. Würde das Fremde gelobt, das Eigene verschwiegen, so würde die Gerechtigkeit verletzt werden. Unsere Richtschnur ist die Wahrheit, auf sie allein schauen wir, ohne im geringsten auf das zu achten, was bei der käuflichen Menge Wert hat. Wir loben und verschweigen daher das, was des Lobens und Verschweigens wert ist.
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Die Rede wurde zwischen 369 und 374, einige Zeit nach dem Tode der Gorgonia gehalten. Vgl. Hürth, a. a. O. S. 46 f. ↩