4.
Ich stellte die Frage an meine Lehrerin: „Als was soll man nun Zorn und Begierde anerkennen? Denn ich S. 269 vermag nicht einzusehen, mit welchem Rechte man Tätigkeiten, die nun einmal in uns sind, abweist, als ob sie nicht zu unserer Natur gehören würden.“ ― „Du siehst, daß unsere Vernunft gegen Zorn und Begierde gleichsam Krieg führt und darauf ausgeht, die Seele davon zu befreien. Manchen ist dieses Streben auch geglückt, wie wir von Moses hören, daß er über Zorn und Begierde den Sieg errang; denn die Geschichte stellt ihm das Doppelzeugnis aus, daß er gegen alle Menschen sanftmütig war ― wer es nämlich durch Sanftmut zur Gelassenheit gebracht, hat unleugbar die Zornmütigkeit überwunden ― und daß er kein Begehren nach dem trug, worauf, wie das tägliche Leben zeigt, das Verlangen der meisten gerichtet ist. Eine solche Nachricht wäre nicht möglich, wenn Zorn und Begehren Wesensbetätigungen wären und zum Begriffe unserer Menschennatur gehören würden. Denn wer seine Natur aufgegeben hätte, würde notwendig auch das Sein aufgeben; nun verblieb Moses im Sein, nicht aber in jenen Seelenbewegungen. Sie sind also etwas anderes als die Natur und nicht Natur. Denn die wahre Natur ist das, woran das Sein des Wesens geknüpft ist. Von jenen Affekten können wir uns frei machen, und zwar in der Weise, daß wir hiedurch keinen Schaden leiden, sondern durch ihre Ausrottung unserer Natur großen Nutzen bereiten. Sonach ist es klar, daß Zorn und Begierlichkeit nicht Wesenheit sind, sondern zu den Anhängseln gehören, die wir an unserer Natur beobachten können, indem sie sich als Leidenschaften derselben darstellen; mit Wesenheit nämlich bezeichnet man das, was die Seele selbst ist.“