7.
S. 272 „In einer gewissen Ordnung und Stufenfolge ist Gott zur Erschaffung des Menschen fortgeschritten. Denn nachdem die Erde stand, erscheint, wie der Bericht erzählt, nicht sogleich der Mensch auf ihr, sondern ihm gingen die Tiere, und diesen die Pflanzen voraus. Hierdurch zeigt, wie ich glaube, die Schrift zur Genüge darauf hin, daß die Lebenskraft in einer gewissen Stufenfolge sich mit der Natur der Körper verband, indem sie zuerst in Geschöpfe einzog, welche der Sinneswahrnehmung entbehren, dann zu solchen mit Sinneswahrnehmungen fortschritt, und endlich zum geistigen und vernünftigen Lebewesen emporstieg. Demnach ist ein Teil der Geschöpfe körperlich, der andere rein geistig; von den körperlichen ist ein Teil seelenlos, der andere beseelt; beseelt nenne ich aber schon das, was Leben hat. Von den lebendigen sind einige mit Sinneswahrnehmung ausgestattet, andere haben an letzterer keinen Anteil. Von den mit Sinneswahrnehmung beschenkten Wesen sind die einen vernünftig, die anderen vernunftlos.“
„Da nun das Leben, welches der Sinneswahrnehmung mächtig ist, nicht wohl ohne Materie bestehen konnte, aber auch das Geistige, falls es sich mit dem sinnlichen Leben verbinden sollte, ebenfalls in einem Körper seine Herberge aufschlagen mußte1, so stellt die Erzählung der Bibel die Erschaffung des Menschen als die Schlußkrone der ganzen Schöpfung dar, weil derselbe jede Art des Lebens in sich schließt, sowohl jenes, das in den Pflanzen sich findet, als auch jenes, das in den Tieren sich offenbart. Ernährung nämlich und Wachstum hat der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam ― beides kann man auch an den Pflanzen beobachten, welche durch die Wurzeln gleichsam Nahrung aufnehmen und das für die Entwicklung Unbrauchbare durch Blätter und Früchte ausscheiden ― die Lenkung auf Grund der Sinneswahrnehmung aber teilt er mit den Tieren; seine Denkfähigkeit und Vernünftigkeit aber ist ein Gut, das weder den Pflanzen noch den Tieren, sondern ihm allein zukommt und auch eigener Würdigung S. 273 bedarf. Aber wie unsere Natur die Fähigkeit hat, nach dem zu streben, was zum materiellen Leben nötig ist, welche Fähigkeit wir Begehrungsvermögen nennen ― dieses eignen wir dem Leben der Pflanzen zu, da sich auch an diesen manche Triebe zeigen, die in der Sättigung mit Verwandtem und im Streben emporzuwachsen sich betätigen ― so sind auch die genannten Eigentümlichkeiten der vegetabilischen Natur mit der denkenden Seele verbunden. Bei den Tieren nun“, fuhr sie fort, „zeigt sich der Zorn, bei ihnen die Furcht, bei ihnen all die Regungen, welche sowohl nach dem Guten wie nach dem Bösen sich ausstrecken; ausgenommen sind nur Vernunft und Verstand, die den Vorzug unseres Menschenlebens bilden und die, wie gesagt, das Abbild der göttlichen Natur in sich tragen. Da aber, wie bereits hervorgehoben, die Denkkraft dem Körper nur auf Grund des Sinnenlebens innewohnen kann, das Sinnenleben aber bereits in der Vorstufe des Tierreiches vorhanden ist, so kommt unsere Seele dadurch, daß sie mit dem einen, dem Sinnenleben, sich verbindet, notwendig auch mit anderen Eigentümlichkeiten der tierischen Natur in Berührung.“
„Alle diese Erscheinungen werden Affekte oder Leidenschaften genannt; sie gereichen dem menschlichen Leben nicht ganz und gar zum Unheil ― denn an den Sünden wäre tatsächlich der Schöpfer schuld, wenn von ihnen Nötigungen zu Verfehlungen ausgingen und diese in unsere Natur eingepflanzt wären ― sondern je nach dem Gebrauche, den unser freier Wille von ihnen macht, werden die genannten Regungen Hilfsmittel zur Tugend oder aber zu Lastern, wie z.B. auch das Eisen, das der Schmied nach seinem Gutdünken formt, die Gestalt annimmt, die ihm derselbe geben will: entweder die eines Schwertes oder die einer Pflugschar. Wenn nun also die Vernunft, welche eben der Vorzug unserer Natur ist, über jene von außen in uns gekommenen Affekte die Oberherrschaft führt, wie das Schriftwort symbolisch durch den Befehl andeutet, über alle Tiere zu herrschen, so wird wohl keiner derselben zum Dienste der Sünde in uns wirksam werden, indem alsdann Furcht Gehorsam bewirkt, Zorn mannhaften Mut, Zaghaftigkeit Behutsamkeit, der Begehrungstrieb aber uns auf die göttliche und S. 274 unvergängliche Wonne und Freude hinweist. Wenn dagegen die Vernunft wie ein Wagenlenker die Zügel fallen läßt, der alsdann selbst unter das Fuhrwerk kommt und hinter demselben geschleift wird, wohin die Zugtiere in ihrer Unvernunft das Gespann gerade reißen, dann verwandeln sich jene Bewegungen in Leidenschaften, deren Unwesen man auch an den unvernünftigen Tieren sehen kann. Denn da Vernunft ihre Naturtriebe nicht lenkt, so bereiten die wilden Tiere, von Zornwut getrieben, einander den Untergang; anderseits vermögen die großen und starken Tiere aus ihrer Kraft keinen Nutzen zu ziehen, sondern gehen wegen ihrer Unvernunft in den Besitz und Gebrauch des vernunftbegabten Menschen über; auch mit ihrer Begierde und Lust sind die Tiere nicht imstande, sich zu Edlerem emporzuschwingen, noch liegt dem gesamten Leben der Tiere, soweit wir es verfolgen können, irgendeine Rücksicht auf höheren Gewinn zugrunde. So ist es auch bei uns: wenn unsere Leidenschaften nicht, wie es sich geziemt, durch die Vernunft gelenkt werden, sondern umgekehrt die Leidenschaften über die Vernunft herrschen, so sinkt der Mensch von der Höhe des Denkens und der Gottähnlichkeit zu Unvernunft und Unverstand herab, weil er sich durch die Leidenschaften um die Besinnung bringen ließ.“
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Das μή [mē] des Textes dürfte falsch sein. ↩